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Wirtschaftsblockade
Etwa seit Jahresbeginn 1989 ist es möglich, das Ziel der Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit von Litauen, Lettland und Estland offen zu nennen, ohne mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen zu müssen. ImFebruar 1989 hat das Sajudis-Parlament klar erklärt, daß man sich auf diesem Weg mit einem Teilerfolg nicht zufriedengeben werde.
Ein herausragendes und unvergessenes Zeichen war die Menschenkette „Derbaltische Weg" am 23. August 1989 zum 50. Geburtstag des Hitler-Stalin-Paktes: Die 650 Kilometer lange Strecke von Tallinn über Riga nach Vilnius war dicht von Menschen bestanden. Jeder vierte Einwohner der baltischen Republiken nahm daran teil, davon zirka 1,2 Millionen Litauer. Am Vortag hatte eine Kommission des Obersten Sowjets Litauens erstmals öffentlich von der Existenz der bis dahin von der UdSSR geleugneten geheimen Zusatzprotokolle gesprochen, in denen die baltischen Staaten der UdSSR zugesprochen wurden.
In Litauen wurde auch zuerst der Artikel 6 der sowjetischen Verfassung, der das Monopol der KPdSU festschreibt, aufgehoben und damit faktisch ein Mehrparteiensystem zugelassen (Lettland f olgte im Jänner 1990). Aufsehen erregte die litauische KP aber, als sie sich am 20. Dezember 1989 nahezugeschlossen von der KPdSU abspaltete und eigenständig machte.
Ein besonderes Problem für die Balten ist der Dienst in der Armee der Okkupanten, in der sie regelmäßig physisch und psychisch drangsaliert werden. Lettland richtete als erstes einen Wehrersatzdienst ein (November 1989).
Hart prallten die Standpunkte bei der Litauenreise Michail Gorbatschows Mitte Jänner 1990 aufeinander. Dabei wurden ihm Wohl -für einen Politiker seines Kalibers unverständlich spät - die letzten Illusionen über den festen Willen der Balten zur Eigenstaatlichkeit genommen. Im Baltikum kann er sich nur mehr auf Reaktionäre stützen, die seinen wirtschaftlichen und politischen Reformen aber ablehnend gegenüberstehen.
Bei den Wahlen zum Obersten Sowjet Litauens im Februar/März 1990 erhielt Sajudis die Zwei-Drittel-Mehrheit. Am 11. März erklärte das neue Parlament die Unabhängigkeit. Am 30. März folgte Estland, das allerdings in einer mode-rateren Erklärung eine mehrjährige Übergangsphase vorsieht, eine ähnliche Erklärung beschloß das lettische Parlament am 4. Mai.
Die Zusammenarbeit der baltischen Republiken wird immer enger, auch der in der Vorkriegszeit bestehende „Baltische Rat" wird wieder belebt. Die unterschiedlichen Vorgangsweisen hängen mit den verschiedenen Mehrheitssituationen in den einzelnen Parlamenten und der Situation der jeweiligen KP zusammen: in der lettischen KP etwa waren die Konservativen in der Mehrheit, die Befürworter der Unabhängigkeit mußten ihre eigene Partei gründen. In Lettland könnte Gorbatschow also, auch wenn er wollte, den Gegnern der lettischen KP keine Zugeständnisse machen, weil er als (Noch-) KPdSU-Generalsekretär nicht einer Parteigliederung in den Rük-ken fallen kann.
In Litauen hat Gorbatschow bekanntlich mit einer Wirtschaftsblockade gedroht und sie auch durchgeführt. Sie hat für das Land schmerzliche Folgen, bisweilen scheint die politische Führung uneins, wie lange sie durchzuhalten ist. Armee-Einheiten besetzten Gebäude, wurden zur politischen Propaganda eingesetzt; am 14. Mai wurde in Kaunas ein Litauer erschossen. Moskau scheute sich nicht einmal, von Litauen dringend benötigte und selbst im Ausland gekaufte Medikamente zu blockieren. Litauen wäre bereit, die Folgen der Unabhängigkeitserklärung für eine bestimmte Zeit auszusetzen, würde der Sowjetunion weiterhin Stützpunkte einräumen, aber Gorbatschow beharrt auf einer Rücknahme der Erklärung. Er verlangt den Austritt aus der Union nach von ihm festgelegten Regeln, die für die Balten völlig unannehmbar sind. Sie berufen sich auf die (völkerrechtlich stichhaltige) Tatsache, daß sie der Sowjetunion nie beigetreten sind, daher auch nicht austreten, sondern ihre Unabhängigkeit wiederherstellen wollen. Mit den vorsichtigeren Esten und Letten lehnt Gorbatschow Verhandlungen genauso ab.
Mittlerweile schlägt die Blockade auf die Sowjetunion zurück. Sie ist nicht nur auf litauische Agrar-produkte angewiesen, eine Leningrader Konfektionsfabrik beispielsweise mit 17.000 Beschäftigten müßte ohne Stoffe aus den litauischen Webereien stillstehen; Moskau muß der Kompressorenfabrik in Panevezys Sonderzuteilungen von Erdölprodukten gewähren, sonst würde die einzige Fabrik schwerer Zugmaschinen in der Sowjetunion stillstehen: Die Industrie Lettlands ist mit der sowjetischen noch stärker verschmolzen.
Plötzlich beginnt sich eine neue Situation abzuzeichnen: Boris Jelzin, der sich bald nach seiner Wahl zum Präsidenten Rußlands demonstrativ mit Litauens Präsident Vy-tautas Landsbergis getroffen hat, ist es gelungen, daß der Sowjet Rußlands ebenfalls beschlossen hat, Republikrecht gehe vor Unionsrecht. Dies könnte überhaupt -wenn Gorbatschow nicht die Umwandlung in einen Staatenbund gelingt - der Anfang vom Ende der UdSSR sein.
Auf jeden Fall kann Jelzin nun mit den Balten Handelsvereinbarungen treffen. Wenn er (im Tausch gegen Fleisch oder andere Produkte) den Litauern Lastwagen zur Verfügung stellte, damit sie bereits gekaufte Waren ins Land transportieren können, dann könnte die Blockade von heute auf morgen zu Ende sein. Litauen ist noch fest entschlossen durchzuhalten; es ist in einer Krise, aber noch lange nicht vom Hunger bedroht.
Obwohl das Gipfeltreffen Bush-Gorbatschow zynisch deutlich gemacht hat, wie wenig kleine Völker zählen, obwohl der Westen Litauen im Regen stehen läßt und auch der Vatikan mit Taktieren vorliebnimmt (Brief an Kardinal Sladkevicius mit moralischer Unterstützung, Signale der Nichteinmischung an Gorbatschow), besteht Grund zur Hoffnung, daß der letzte Kolonialstaat zerfällt und das Völkergefängnis sich öffnet.
Völkerrechtlich ist dabei zwischen dem Austritt anderer Republiken und der Wiederherstellung der baltischen Staaten zu unterscheiden. Zu Recht haben fast alle westlichen Staaten die Annexion nie anerkannt. Daß sie diese Völker mit einer langen europäischen Tradition nicht unterstützen, liegt wohl in der Fixierung auf Gorbatschow, der ihnen - zum präsidialen Denkmal geworden - als Partner mit realpolitischer Macht freilich ab-handenkommen könnte.
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