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Kampf gegen die
Am 3., 5. und 16. August 1940 - also vor fünfzig Jahren - wurden Litauen, Lettland und Estland als Konsequenz aus dem geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Abkommens vom 23. August 1939 zwangsweise in die Sowjetunion eingegliedert. Die Unabhängigkeitsbestrebungen der baltischen Völker haben in den letzten Monaten viel mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das Dossier geht den verschiedenen Wegen der Litauer, Letten und Esten zum gleichen Ziel nach, nämlich der Wiedererrichtung von souveränen Staaten.
Am 3., 5. und 16. August 1940 - also vor fünfzig Jahren - wurden Litauen, Lettland und Estland als Konsequenz aus dem geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Abkommens vom 23. August 1939 zwangsweise in die Sowjetunion eingegliedert. Die Unabhängigkeitsbestrebungen der baltischen Völker haben in den letzten Monaten viel mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das Dossier geht den verschiedenen Wegen der Litauer, Letten und Esten zum gleichen Ziel nach, nämlich der Wiedererrichtung von souveränen Staaten.
Lettland ist am meisten russifi-ziert. Zwischen 1940 und 1953 hat das Land über eine halbe Million Menschen - ein Viertel seiner Bevölkerung- verloren: mindestens 155.000 durch den Terror der sowjetischen Sicherheitskräfte, mindestens 127.000 durch die deutsche Besatzungsmacht 1941 bis 1944 (davon 90.000 Juden); 130.000 Flüchtlinge haben die Westzonen Deutschlands oder Schweden erreicht, Zehntausende sind durch Kriegsereignisse oder auf der Flucht umgekommen. Diese Verluste wurden durch massenhaft angesiedelte russische Fabrikarbeiter oder Mitarbeiter der aufgeblähten Staatsbürokratie ersetzt. Die Letten stellen heute nur mehr die Hälfte der Einwohner ihres Landes, in der Hauptstadt Riga stehen 300.000 Letten 700.000 Fremden gegenüber.
In der Kommunistischen Partei und auf Funktionärsebene sind die Letten total in der Minderheit. Da die Partei in der „Tauwetterperiode" Nikita Chruschtschows weitgehende nationalkommunistische Reformversuche wagte, wurde sie 1959 bis 1961 gesäubert (Entfernung von 2.000 Funktionären); früher und wesentlich nachhaltiger waren die Weichen in Richtung Stagnation gestellt.
In Litauen hingegen stellen die Litauer selbst noch fast 80 Prozent der Bewohner, die Russen 9,4 Prozent, die Polen sieben Prozent. 1989 waren mehr als 70 Prozent der Parteimitglieder Litauer. Manches mag mit dem von 1940 bis 1974 amtierenden Parteisekretär Sniec-kus zusammenhängen: Dieser enge Freund des mächtigen Chefideologen Suslow galt in Moskau als zuverlässig. Er konnte die Politik der Zentrale in einer Weise umsetzen, die ihm den Ruf einbrachte, die nationalen Interessen Litauens zu wahren.
Die Esten stellen in ihrem Land noch etwa 60 Prozent der Bevölkerung. Sie haben die Russif izierung im alltäglichen Leben am konsequentesten bekämpft. In Estland war die Information der Bevölkerung durch das finnische Fernsehen am besten; in Teilen Litauens kann das polnische Fernsehprogramm empfangen werden (etliche Litauer verstehen Polnisch), die Letten hingegen waren auf die sowjetischen Nachrichten angewiesen.
Ungebrochen war in allen drei Ländern die antisowjetische Einstellung. Unvergessen sind die Deportationen geblieben, bei denen 1940/41,1944 und im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft (etwa 1949) Tausende umgekommen sind; 350.000 Bauern wurden allein aus Litauen verschleppt. Massive Partisanenkämpfe gab es im ganzen Baltikum bis in die fünfziger Jahre.
In Litauen war die katholische Kirche der ideologische Hauptgegner. Die seit März 1972 ununterbrochen erscheinende „Chronik der litauischen Kirche" (im Westen regelmäßig übersetzt) war die am längsten überlebende Samisdat-Zeitschrift der ganzen Sowjetunion. Einige ihrer Mitarbeiter sind erst 1988 aus der Haft zurückgekehrt.
Bis 1986 hat sich kein Wandel der Situation abgezeichnet; es gab nur kleinste Dissidentengruppen. Eine Initialzündung war die Gründung der lettischen Menschenrechtsgruppe „Helsinki 86" im Herbst 1986. Sie forderte die Wiederherstellung der Rechte der letrtschen Grundnation, eine Verurteilung der stalinistischen Deportationen und eine
Volksabstimmung über den Austritt aus der Sowjetunion. Ihre Mitglieder waren Schikanen ausgesetzt, wurden aber nicht mehr strafrechtlich verfolgt.
1987 spielten ökologische Fragen eine große Rolle: Jugend- und Studentenorganisationen protestierten öffentlich gegen eine Erweiterung des Phosphatabbaues in Nordestland, in Lettland war die ökologische Zerstörung Thema der Presse und öffentlicher Veranstaltungen (Protest gegen ein Wasserkraftwerk). Moskau gab nach und stellte Projekte zurück. In allen drei Ländern wurde der katastrophale Zustand der Ostsee bewußt.
Am 14. Juni 1987 fand in Lettland die erste von der Opposition geplante und angekündigte öffentliche Demonstration der sowjetischen Nachkriegsgeschichte statt. Bei der Auflösung der Demonstration zum 18. November (Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung) kam es in Riga zu Straßenschlachten. In Litauen fand am 23. August die erste Demonstration zur Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt statt.
1988 war das Jahr der „singenden Revolution" und der Gründung der Volksfrontbewegungen. In Litauen setzte das alte Regime zwar am 16. Februar (Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung) Polizei ein und ließ sogar noch am 28. September eine Massendemonstration niederknüppeln; aber „Saju-dis" (=Bewegung), im Juni gegründet, war bereits im Spätherbst die stärkste Macht im Lande.
Die KP wählte den Reformer Algirdas Brazauskas ah die Spitze und versuchte, Sajudis zu überholen: Litauisch wurde zur Amtssprache erklärt, der Russisch-Unterricht im Kindergarten und den ersten Schulklassen gestoppt, Flagge und Hymne des unabhängigen Litauen wurden zu offiziellen Symbolen der Litauischen SSR, religiöse Feiertage und der Tag der Unabhängigkeit zu offiziellen Feiertagen. Der litauischen Kirche wurde der Dom yon Vilnius zurückgegeben, Erzbischof Steponavicius konnte aus seiner Verbannung nahe der lettischen Grenze zurückkehren, Kardinal Sladkevicius, einst unter Hausarrest, wurde Bischof von Kaunas.
In Estland versammelten sich auf einem Sängerfest der Volksfront am 11. September 1988 mehr als 300.000 Menschen. Es gelang die Absetzung des verhaßten Parteichefs. Wappen, Hymne und Fahne des unabhängigen Estland wurden w^der zugelassen, auch die politischen Gefangenen wurden - wie in Litauen - freigelassen. Im Jänner 1990 wurde Estnisch Staatssprache.
Dasselbe geschah in Lettland, nachdem an den sommerlichen Kundgebungen etwa ein Drittel des Volkes teilgenommen hatte. Anders als in Litauen hatte der Reformflügel keine Chance, die Partei umzukrempeln, es kam zu einer Spaltung.
In allen drei Ländern hatten sich die Verbände der Intellektuellen und Kulturschaffenden die Argumente der Opposition als erste zu eigen gemacht. Die jeweils mit deutlichem Rückenwind Moskaus gegründeten „Interfronten" waren langfristig nicht sehr erfolgreich; besonders in Lettland wollen auch viele Russen lieber in einem unabhängigen Staat leben.
Bei den Wahlen zu Gorbatschows neuem Parlament, dem Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR, im März/April 1989, gewannen die Volksfrontbewegungen haushoch: 30 von 41 Sitzen waren es in Lettland, 36 von 42 Mandaten konnte Sajudis für sich verbuchen, im September 1989 schlössen sich die Abgeordneten der drei Länder zur „Baltischen Parlamentariergruppe" zusammen.
Einen fundamentalen Schritt unternahm Estland zunächst im Alleingang: Am 16. November 1988 beschloß das Parlament eine Deklaration der Souveränität Estlands und wichtige Verfassungsänderungen: die Menschenrechtspakte der UNO als integraler Bestandteil der Rechtsordnung, Alleineigentum der ESSR an Grund und Boden, Banken. Erstmals kam hier der Grundsatz „Republikrecht vor Unionsrecht" zum Tragen. Moskau reagierte scharf, die Verfassungskrise dauert noch an. Souveränitätsdeklaration und Verfassungsänderung folgten in Litauen am 18. Mai, in Lettland am 28. Juli 1989.
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