Gespalten zwischen West und Ost

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Durch den Ukraine-Konflikt hat sich das Verhältnis zwischen den Letten und der russischen Minderheit im Land weiter zugespitzt. Ein Lokalaugenschein.

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Durch den Ukraine-Konflikt hat sich das Verhältnis zwischen den Letten und der russischen Minderheit im Land weiter zugespitzt. Ein Lokalaugenschein.

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Der Himmel ist bedeckt an diesem Freitag Vormittag in Riga. Menschenmassen sammeln sich im Park am linken Ufer der Daugava. Viele ältere Menschen, aber auch junge Leute bewegen sich Richtung sowjetisches Siegesdenkmal, von woher Marschmusik tönt. Die meisten halten rote Blumen in der Hand, die sie später vor dem Denkmal niederlegen oder den Kriegsveteranen überreichen werden.

"Wir kommen jedes Jahr hierher, um unseren Helden zu danken", sagen die Schwestern Elena und Katarina Krucinina. In ihren Einkaufstaschen haben sie kiloweise Schokolade für die Veteranen.

Wie viele Russen in Riga besuchen auch die beiden jungen Frauen am 9. Mai, dem "Tag des Sieges", das sowjetische Denkmal. Der hoch emporragende Obelisk und die Bronzestatue mit den zwei Soldaten sollen an den Sieg Russlands über Nazi-Deutschland 1945 erinnern. "Unser Urgroßvater hat in der russischen Armee gedient. Seinem Mut verdanken wir unser Leben", erklären die Schwestern.

Von Putin gesponserte Feier

Sie halten rote Flaggen in den Händen und tragen Anstecker auf ihren Jacken. Seit Russlands Präsident Wladimir Putin 2005 begonnen hat, die Siegesfeier der russischen Minderheit in Riga zu sponsern, ist sie zu einem Großereignis geworden. Die regierende pro-russische Partei 'Zentrum der Harmonie' will an diesem Tag das Nationalgefühl der russischen Minderheit inszenieren. Polizisten stehen in Reih und Glied an den Straßenrändern. Von den angekündigten Provokationen beider Seiten und den Bombenwarnungen ist nichts zu bemerken.

Ob sich die jungen Frauen mehr als Russinnen oder als Lettinnen fühlen, können sie nicht sagen. "Wir sind aber durch unsere Abstammung schon mehr russisch", betonen sie. Angesprochen auf die Europa-Wahlen winken sie ab: "Die EU interessiert uns nicht, wir werden nicht wählen." Und Putin sei ein guter Politiker mit legitimen russischen Ansprüchen.

Die Großeltern der Krucininas zogen in den Sechziger Jahren von Russland nach Riga. Hunderttausende Russen wurden damals im Zuge der sowjetischen Siedlungspolitik in Lettland angesiedelt. Heute haben ein Drittel aller Letten russische Wurzeln. Leute ohne Russland-Bezug sind heute kaum bei der Siegesfeier. Viele Letten empfinden die Feierlichkeiten als Provokation. Dieser Tag erinnert sie an die langen Jahre der russischen Vorherrschaft im Baltikum. Seit der Ukraine-Krise hat sich das Verhältnis zwischen den Letten und der russischen Minderheit weiter zugespitzt.

Denn 13 Prozent aller Einwohner sind sogenannte "Nicht-Bürger", die Mehrheit davon Russen. Diese 300.000 Menschen dürfen nicht an Wahlen teilnehmen oder in gewissen staatlichen Einrichtungen arbeiten. Dabei hatte die sogenannte "Volksfront", die Ende der 1980er Jahre um Lettlands Austritt aus der Sowjetunion kämpfte, jedem Einwohner unabhängig von seiner Herkunft gleiche Rechte in Aussicht gestellt.

Geschichtstest für Staatsbürger

Wer die Staatsbürgerschaft anstrebt, muss einen Sprachtest absolvieren und Fragen zur lettischen Geschichte beantworten. "Die entscheidende Frage, nämlich ob Lettland von Russland zu Unrecht besetzt wurde, muss dabei 'richtig' beantwortet werden", erklärt die Soziologin Inese Supule vom Baltischen Institut für Sozialwissenschaften. Der Großteil der "Nicht-Bürger" sind ältere Menschen. "Sie haben entweder Schwierigkeiten, die Sprache zu erlernen, oder wollen gar nicht Staatsbürger werden", so Supule. Seit letztem Jahr können alle Eltern ihr neugeborenes Kind als lettischen Staatsbürger registrieren.

Der springende Punkt ist aber die Sprachenfrage: "Ob ich Lettisch oder Russisch spreche, bestimmt die Wahl meines Arbeitsplatzes, der Schule meiner Kinder sowie meiner Medien", erklärt Supule. Die russische Community in Riga und im Osten des Landes ist nämlich autark. "Da braucht man kein Lettisch zu sprechen, wenn man einkaufen geht", betont Supule. Sie selbst, noch zu UdSSR-Zeiten in einer russischen Schule sozialisiert, wechselt automatisch zu Russisch, wenn sie mit ihren russischen Nachbarn spricht.

Die Sprache entzweit Lettland

Im Jahr 2012 setzte sich eine Initiative für Russisch als zweite Amtssprache ein. Es gab ein Referendum mit dem Ergebnis, dass Lettisch einzige Amtssprache blieb. "Dieses Referendum war ein großer Fehler. Es hat die lettische Gesellschaft gespalten und viel böses Blut erzeugt", meint der russische Geschäftsmann Dmitrijs Trofimovs. Er möchte seine Kinder nicht in eine russische Schule schicken. "Der Unterricht dort ist noch immer von der Sowjet-Ideologie beeinflusst", kritisiert er. Trofimovs wünscht sich eine Schule, in der auf Russisch unterrichtet, aber die lettische Identität vermittelt wird - nur, so eine Schule gibt es nicht.

Er selbst fühlt sich als Russe von den Letten nicht diskriminiert. "Putin behauptet das doch nur, um die EU und die USA zu beeinflussen", sagt Trofimovs. Er spürt aber die derzeitige Spaltung in der russischen Community: "Etwa ein Drittel der Russen unterstützt die Ukraine, ein Drittel ist für Russland und ein Drittel ist unentschlossen. Selbst der Großteil jener, die im Ukraine-Konflikt für Russland sind, wollen die Unabhängigkeit Lettlands bewahrt wissen", betont er. Sie würden Russlands willkürliche Justiz und die mangelnde Bürgerfreiheit fürchten.

Ein besonderes Problem ist die Popularität der russischen Sender bei der russischen Minderheit. "Jede russische Familie sieht jene Programme, die Putins Propaganda verbreiten", kritisiert Anita Kleinberga, Leiterin der Integrations-Abteilung im Kulturministerium. Weil auch die Programme der lettischen Russen in Russland produziert werden, gibt es kein propagandafreies russischsprachiges Programm. "Wir arbeiten gerade an einem gemeinsamen baltischen Kanal, der als unabhängiges Qualitätsmedium ein objektives Bild von den Vorgängen in der EU vermitteln soll. Das Ziel ist es, denselben Inhalt in den baltischen Sprachen und in den Sprachen der Minderheiten auszustrahlen", berichtet Kleinberga.

Gerade der Osten Lettlands ist stark russisch geprägt. Viele Menschen erhoffen sich dort von der Zugehörigkeit zur russischen Konföderation höhere Gehälter. Umfragen zufolge will die große Mehrheit der lettischen Russen aber nicht zu Russland. Als Reaktion auf die Ukraine-Krise ist die Zustimmung zur EU und zur NATO klar gestiegen. Befürchten die Letten, dass Russland ähnlich wie auf der Krim oder im Osten der Ukraine mit dem Säbel rasseln könnte?

Andrejs Pildegovics, Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten, nimmt die Ängste der Bevölkerung ernst. "Man muss bedenken, dass Lettland im letzten Jahrhundert brutale russische Okkupationen hinter sich hat", betont er. Der Politiker und Diplomat hätte nicht gedacht, dass eine solche russische Gangart im Europa des 21. Jahrhunderts noch möglich ist. "Das bereitet uns wirklich Sorgen. Wir dachten, die Dämonen des extremen Nationalismus und des Krieges wären endgültig in die Vergangenheit verbannt worden." Unter großem ökonomischen Druck sei Lettland aber nicht: Der große Nachbar im Osten ist mit 13 Prozent Anteil an den lettischen Handelsbeziehungen nicht die wichtigste Cashcow, Import und Export halten sich die Waage.

Pro-europäische Russen

"Schon aus wirtschaftlichen Gründen und aus Gründen der Sicherheit sind die meisten Letten froh, Teil der EU zu sein", sagt der Journalist und Historiker Igor Vatolins. Er arbeitet gerade am Aufbau einer NGO namens "Europäische Russen-Bewegung". Seine Botschaft: "Wir möchten aufzeigen, dass nicht alle lettischen Russen auf Putins Seite sind." Er kann der Ukraine-Krise auch etwas Positives abgewinnen: "Nun verstehen Lettlands Politiker endlich, dass es auch unabhängige Medien in russischer Sprache braucht."

Bis Lettland und Europa zusammenwachsen, werde es noch dauern. "Die meisten verstehen noch nicht, was es bedeutet, EU-Mitglied zu sein. Sie glauben, die EU sei einfach eine Geldquelle", kritisiert Vatolins. Der Aktivist erwartet sich von den jungen Letten mehr Interesse an Europa. "Ich befürchte aber, dass vor allem die älteren Europaskeptiker wählen werden."

Inzwischen ist die Dämmerung über die Siegesfeier im Park hereingebrochen. Gleich geht das alljährliche Feuerwerk los. Ein Mädchen mit weißer Mütze hat es sich auf den Schultern ihres Papas bequem gemacht. Es ist Irinas erste Siegesfeier. Ihr Vater Ilja Scanicins wünscht sich, dass seine Tochter in Frieden, Sicherheit und Wohlstand in Lettland aufwachsen wird. "Ich hoffe, wir werden irgendwann einmal gemeinsam feiern können", sagt der Russe, während Irina begeistert auf jeden Feuerwerkskörper zeigt, der über dem Himmel von Riga aufsteigt.

Die Reise nach Lettland wurde durch "Eurotours 2014", ein EU-finanzertes Projekt der Europapartnerschaft, ermöglicht.

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