Die Illusion der Spaltung

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Das Krim-Referendum hat eine politische Zerrissenheit der Ukraine geschaffen, die ethnisch-sprachlichen Grenzen folgt. Diese gibt es im Rest des Landes nicht.

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Das Krim-Referendum hat eine politische Zerrissenheit der Ukraine geschaffen, die ethnisch-sprachlichen Grenzen folgt. Diese gibt es im Rest des Landes nicht.

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Die Ukraine ist ein zutiefst gespaltenes Land." Kaum eine Geschichte über die Ukraine kam in den vergangenen Monaten ohne diese Plattitüde aus. Zerrissen zwischen Ost und West, im Westen wird Ukrainisch gesprochen, im Osten Russisch, hier eine an Europa, dort eine an Russland orientierte Mehrheit. Mit dem Referendum auf der Krim sehen sich viele bestätigt, dass viele Ukrainer ihre Zukunft in Russland sehen.

Doch ganz abgesehen von der Tatsache, dass die Volksabstimmung nichts anderes als eine Farce war, ist die Krim ein Sonderfall. Hier gab es schon seit dem Zerfall der Sowjetunion Sezessionsbewegungen, die Bevölkerungsstruktur ist völlig anders als im Rest des Landes, wo sich ein differenziertes Bild zeigt. Hier sind die Metaphern eines zerrissenen Staates Plattitüden, die der medialen Vereinfachung geschuldet sein mögen. Das Gerede von den scharfen Trennlinien beschränkt sich aber nicht nur auf Journalisten, sondern wird auch gerne von vielen so genannten Experten vor sich her getragen. Doch nur, weil etwas unzählige Male wiederholt wird, muss es noch lange nicht richtig sein. Die Realität ist um einiges komplexer.

Die städtische Sprachengrenze

Die so oft zitierte Spaltung der Ukraine wird oftmals an linguistischen Differenzen festgemacht. Es gibt tatsächlich regionale Unterschiede - in Städten wie Charkiv oder Donezk im Osten des Landes beispielsweise wird mehrheitlich russisch gesprochen. Aber die geographische Verteilung ist weitaus komplexer, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Die Verbreitung des Russischen ist auch in vielen östlichen Regionen vor allem ein urbanes Phänomen. Laut der Volksbefragung von 2001 haben 66 Prozent der Bewohner von Charkiv ihre Muttersprache als Russisch angegeben, im umliegenden gleichnamigem Oblast hingegen sahen sich 54 Prozent als ukrainische Muttersprachler. Die stärkere Verbreitung des Russischen in den Städten fußt vor allem auf einem starken Russifizierungsdruck während der Sowjet-Herrschaft.

Tatsächlich sprechen die Menschen in der Ukraine in den meisten Regionen beide Sprachen - die Krim stellt hier die Ausnahme der Regel dar. Selbst innerhalb vieler Familien wird oft zwischen Ukrainisch und Russisch hin und her gesprungen. Viele sehen die existierende Bilingualität in der Ukraine als das, was sie ist: ein Riesengeschenk. Die Muttersprache selbst ist außerdem kein ethnisches Phänomen. Viele ethnische Ukrainer sprechen Russisch, ohne dabei einen Zweifel an ihrer ukrainischen Identität zu hegen oder gar einen Anschluss an Russland zu wünschen.

In der Schweiz beispielsweise würde niemand auf die Idee kommen, den Gebrauch von verschiedenen Sprachen als Hinweis für eine Zerrissenheit zu sehen, die sogar zu einer echten Spaltung des Staates, geschweige denn zu einem Bürgerkrieg führen könnte.

Warum sollte das in der Ukraine anders sein?

Die Sprachenfrage fällt als Zeuge für die vorgegebene Spaltung der Ukraine weg. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es innerhalb der Bevölkerung tatsächlich Spannungen über die zukünftige Ausrichtung des Landes gibt. Aber das soll auch schon in den besten Demokratien vorgekommen sein. Der britische Premier David Cameron möchte ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU durchführen lassen. In Österreich liegt die FPÖ mit ihrer scharfen Anti-EU-Rhetorik und Euro-Austrittsforderungen in Umfragen an erster Stelle. Nach der Logik, mit der über die Ukraine gesprochen wird, wäre jedes zweite europäische Land zutiefst gespalten. Nach dem Sturz des Janukowitsch-Regimes

wäre es an der Zeit gewesen, diese Fragen nach der Ausrichtung in einem breiten Diskurs zu beantworten. Diesem notwendigen Diskurs aber kam die militärische Intervention Russlands zuvor. Statt einen Diskussionsprozess zu starten, werden die alten Feindbilder kultiviert. Die massive Propaganda aus dem Kreml spielt dabei eine große, vielleicht sogar entscheidende Rolle.

Die bestehenden Trennlinien in der Ukraine, auch in Bezug auf die Ausrichtung des Landes, fußen vor allem auf unterschiedlichen historischen Entwicklungen. Durch kaum ein Territorium in Europa wurden so oft neue Staatsgrenzen gezogen wie hier. In der jüngeren Geschichte war der Westen der Ukraine lange Teil der Habsburger-Monarchie, der Osten gehörte hingegen zum Russischen Reich. Erst im Zweiten Weltkrieg wurde die heutige Ukraine in der Sowjetunion zu einer eigenständigen Republik vereinigt. Diese blutige Geschichte hat Spuren hinterlassen.

Der Generationen-Spalt

Das größte Problem der seit 1991 unabhängigen Nation ist ein bis heute fehlendes Narrativ seiner Geschichte, auf das sich alle einigen können. Das zeigt sich auch in dem aktuellen Konflikt. Stepan Bandera, der Anführer der ukrainischen Widerstandsarmee im Zweiten Weltkrieg, wurde von vielen Revolutionären als Symbol des Aufstandes verwendet. Während viele Menschen im Westen des Landes Bandera als Helden verehren, der für die Unabhängigkeit der Ukraine gekämpft hat, gilt er im Osten vielen als Massenmörder und Nazi-Kollaborateur.

Doch auch diese historischen Trennlinien erodieren. Wenn es eine echte Spaltung im Land gibt, dann eine zwischen den Generationen. Es waren Studenten, die im November die Ersten Demonstranten am Maidan waren. Diese jungen Leute Anfang zwanzig sind die erste Generation, die in der unabhängigen Ukraine geboren sind. Die Sowjet-Nostalgie vieler ihrer Eltern und Großeltern ist ihnen fremd. Eine große Mehrheit unter ihnen, egal ob ukrainischoder russischsprachig, egal ob aus dem Westen oder dem Osten, fordert eine neue Ukraine. Sie wollen eine Perspektive für ihr Land, ein würdevolles Leben, einen echten Rechtsstaat. In einer Annäherung an Europa sehen sie die Möglichkeit, diese Ziele zu erreichen. In einigen Jahren werden sie das Schicksal der Ukraine bestimmen. Spätestens dann sollten wir aufhören, von einem zutiefst gespaltenen Land zu sprechen.

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