"Postimperialistische Versager"

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Als Autor von "Rekreacij" oder "Perverzija" machte sich Juri Andruchowytsch über die Grenzen der Ukraine hinaus einen Namen, seine Romane "Zwölf Ringe" und "Moskoviada" erschienen auch auf Deutsch. Bei Lesereisen gewinnt er einen Einblick in die aktuellen Umbrüche und Entwicklungen an der ukrainischen Basis - ein Literaturprojekt für die junge Generation.

Die Furche: Nachdem die Ukraine durch die Orange Revolution gewissermaßen einen Politisierungsschub erhalten hat, durchläuft sie nun schon längere Zeit eine Krise. Wie stellt diese sich Ihnen dar?

Juri Andruchowytsch: Diese Koalition war auf schlechtem Grund gebaut und konnte nicht lange leben. Die Regierung ist unglaublich unprofessionell. Ich würde mir wünschen, dass jetzt die orangen Kräfte gewinnen, die vorgezogenen Neuwahlen sind unvermeidlich.

Die Furche: Aber wenn Sie zurückschauen auf die Jahre 2005 und 2006, war es nicht enttäuschend, wie die Orangen regiert haben und zerstritten waren?

Andruchowytsch: Ich lebe zwar eher außerhalb der ökonomischen Verhältnisse der Ukraine, aber soviel ich von Freunden aus der Mittelklasse mit Klein- und Mittelbetrieben weiß, waren sie mit den orangen Regierungen zufrieden. Vor allem weil die ökonomische Freiheit kam, sehr viele bürokratische und korrupte Schemata aufhörten, wirtschaftliche Verhältnisse formaler und einfacher wurden. Nun sind alle alten Methoden aus der Kutschma-Zeit zurück. Das Problem der "Orangen" war, dass sie sich nie wirklich einig waren. Aber die Mehrheit der Gesellschaft ist meines Erachtens keinesfalls enttäuscht von der Demokratie, sondern ihrem Fehlen.

Die Furche: Als Damoklesschwert gilt die Spaltung des Landes in den Osten und einen stark westorientierten Landesteil an der Grenze zur EU. Wie kann diese überwunden werden?

Andruchowytsch: Wenn ich das wüsste, wäre ich wahrscheinlich Präsident. Aber separatistische Ideen sind unpopulär. Das ist ein guter Anfang. Jetzt ist das Problem, dass die Bevölkerung im Osten oder Süden eine andere Vorstellung davon hat, wie die vereinigte Ukraine aussehen sollte. Das liegt auch in unserem Alltagsleben begründet, in der mangelnden Modernisierung der Infrastruktur und dem gravierenden Transportproblem, was durch die Fußball-Europameisterschaft 2012 besser werden kann.

Die Furche: Ist nicht auch die Rhetorik des als russlandfreundlich geltenden Janukowitsch längst proeuropäisch geworden?

Andruchowytsch: Janukowitsch will eine Integration in die EU. Nur sind er und seine Partei mit dieser Rhetorik nicht aufrichtig. Sie wollen die wirtschaftlichen Möglichkeiten Europas nützen, aber keine tieferen demokratischen Veränderungen erlauben. Aber auch die Bevölkerung im Osten sieht Europa als etwas Gutes. Das könnte die Nation einigen. Es entsteht auch eine kleine Migration hierher, wo es ganz nahe zur EU-Grenze ist, und eine Europäisierung der Leute aus dem Osten.

Die Furche: Eine sprachliche Trennung zwischen Ukrainisch und Russisch wird aber bleiben. Sie weigern sich in Interviews ja auch, Russisch zu sprechen, obwohl Sie es perfekt können.

Andruchowytsch: Ich bin mir sicher, dass dieses Land immer zweisprachig sein wird und soll. Das sehe ich keinesfalls als Bedrohung unserer Einigkeit. Sie darf nur nicht für politische Spiele ausgenützt werden. Ich habe da bei meinen Lesereisen immer große Toleranz und Erwartung erlebt, in etwas Ukrainisches, das so positiv und erfolgreich ist. Nur vor Wahlen wird das immer zum Politikum.

Die Furche: Was denken Sie, wie Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller zur Überwindung der Spaltung im Land beitragen können?

Andruchowytsch: Sie können viel machen. Es muss einfach alles Gute in unserer heutigen Kunst und Literatur überall in der Ukraine repräsentiert sein. Überall gibt es die Möglichkeiten für Kontakt und Dialog. Ich selbst lese immer nur 30 Minuten und gehe dann zum Dialog über. Man muss bloß Dialog führen und es wird hier viel mehr Verständnis geben.

Die Furche: Mit Ihrer Arbeit gelten Sie als Identitätsstifter. Auf welchen Säulen kann die Ukraine eine umfassende Identität aufbauen?

Andruchowytsch: Ich denke nicht, dass wir so etwas Exklusives als eine einzige Säule haben. Das Land hatte so lange keine Präsenz und kein eigenes Gesicht in der Welt, war nur Teil von etwas, dass eine gemeinsame historische Identität schwer zu finden ist. Man sollte nicht auf der Basis der Vergangenheit suchen, sondern ein Zukunftsprojekt. Das kann auch eine europäische Idee sein für die Ukraine, vielleicht keine EU-Mitgliedschaft, aber ein integraler Teil Europas.

Die Furche: Wie sehen Sie den europäischen Einigungsprozess?

Andruchowytsch: Ich denke, dass ein Modell der Einigung - die EU - nicht ausreicht. Während die Vereinigung stattfindet, werden von der EU selbst neue Trennlinien gezeichnet. Es braucht eine Alternative. In meinen Texten betrachte ich dieses Konstrukt als Initiative von postimperialistischen Versagern. Fast jedes Land Europas bemühte sich in der Geschichte mit mehr oder weniger Erfolg, Imperium und Großmacht zu sein. Wirklich zur Weltherrschaft zu kommen, gelang aber niemandem. Dann kam zu diesem Zweck die Idee, sich zu vereinigen und einen gemeinsamen Organismus zu bauen. Das ist natürlich eine sehr negative Sicht, provokativ und ironisch.

Die Furche: Wo sehen Sie die Ostgrenze Europas? Ist geografisch zu denken da überflüssig?

Andruchowytsch:Ja, das ist überflüssig. Es ist einer der Vorteile des Kontinents, dass er seine Grenze nicht kennt. Ich halte es für falsch, dass Europa die alte Welt ist. Ich denke, es ist der jüngste Kontinent, der ständig wächst und sich verändert. Europa bleibt immer eine offene Frage und Chance durch die ständige Möglichkeit zu Veränderung und Wachstum, natürlich nicht wirklich im territorial-geografischen Sinn.

Die Furche: Sie sagten einmal: Ist man 40, wird man zu müde, um eine bessere Zukunft zu wollen. Das Gespräch schien mir aber optimistisch.

Andruchowytsch: Ich bin jetzt nicht mehr 40, sondern 47. Die Müdigkeit ist schon übertaucht. Ich werde paradoxerweise immer jünger und jünger. Und deswegen bin ich im Vergleich zu den Texten, die ich vor sieben, acht Jahren schrieb, jetzt viel optimistischer. Es freut mich vor allem, dass die Änderungen in meinem Land irgendwie von den Veränderungen in mir selbst begleitet werden.

Die Furche: Hat die Orange Revolution schon eine literarische oder künstlerische Aufarbeitung erfahren?

Andruchowytsch: Es gibt ein paar - schwache - Bücher, Gedichte, Filme. Die Revolution war ja ein Kunstwerk in sich, keine Kunst kann das überbieten, tiefer, stärker als die Revolution selbst sein. Arbeit für Intellektuelle und Künstler gibt es mit wachsender Distanz genug, gerade für die jüngste Generation. Die interessantesten Literaten bei uns sind zwischen 25 und 30, frei vom Ballast der Zensur und Totalitarismen, offen und aufrichtig und immer zum Dialog mit Gesellschaft und Publikum bereit - nicht vom Podest der moralischen Autorität, sondern auf der Basis von Gleichheit und gemeinsamem Verständnis.

Das Gespräch führte Eduard Steiner.

Der Künstler und die Revolution

Zweieinhalb Jahre nach der Orangen Revolution sind politische Krisen in der Ukraine zur Normalität geworden. Nachdem Präsident Juschtschenko im Frühjahr das Parlament aufgelöst hatte, konnte man sich mittlerweile immerhin auf Neuwahlen Ende September einigen.

Im Furche-Interview durchleuchtet der ukrainische Starautor Juri Andruchowytsch die Infrastruktur seines Landes.

Wo ist der Geist des Aufschwungs? An welchen Identitätssäulen kann sich das Land aufrichten? Wie sieht man hinter der EU-Außengrenze den europäischen Einigungsprozess? Und kann man nach dem 40. Lebensjahr noch eine bessere Zukunft wollen?

Juri Andruchowytsch lebt in der westukrainischen Stadt Iwano-Frankiwsk, dem früheren galizischen Stanislau, wo er auch 1960 geboren wurde. Seine Studien absolvierte er in Lemberg und Moskau. Zwischendurch war er in Westeuropa und den USA tätig.

Seit 1982 veröffentlicht er Gedichte, Essays zu aktuellen Themen und Romane. Mit dreien von ihnen - "Rekreacij", "Moskoviada" und "Perverzija" - avancierte er zum Klassiker der ukrainischen Gegenwartsliteratur. Durch den auch ins Deutsche übersetzten Roman "Zwölf Ringe" sowie die Essays "Das letzte Territorium" und "Mein Europa", den er gemeinsam mit seinem polnischen Literaturgefährten Andrzej Stasiuk verfasst hat, erlangte er in den letzten Jahren im Westen große Aufmerksamkeit.

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