Atomare Abschreckung

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Präsident Leonid Kutschma drohte mit Reaktorunfällen, sollten die Bürgerunruhen in der Ukraine weitergehen. Das sagen EU-Abgeordnete und warnen davor, zu schnell an einen Sieg der Demokratie im Land zu glauben.

Böse sollte keine Kategorie in der Politik sein, doch im Fall der ukrainischen Staatsspitze kann man nicht mehr nur von schlechter Politik sprechen - auch sie habe bislang nicht glauben können, "wie böse diese Politik ist", sagt Rebecca Harms bei einem Hearing in der letzten Woche im Europaparlament in Straßburg. Die deutsche Grüne ist Mitglied im EU-Ukraine-Ausschuss des Europaparlaments. In dieser Funktion reiste Harms nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl nach Kiew. Ein Gespräch mit dem scheidenden Präsidenten Leonid Kutschma öffnete ihr die Augen: "Kutschma drohte: Für den Fall weiterer Bürgerunruhen und Demonstrationen könne es zu atomaren Unfällen kommen." Harms sagt, sie sei schwer schockiert über diese menschenverachtende Skrupellosigkeit gewesen - und wer vor Reaktorunfällen nicht zurückschreckt, für den sei die Vergiftung von Konkurrenten wohl eine Lappalie.

Angst vor Den Haag-Tribunal

"Der Architekt der Krise in der Ukraine ist Kutschma", meint auch der ukrainische Grün-Politiker Serhiy Kurykin. Er bestätigt Pressemeldungen, wonach am dritten oder vierten Tag der "orangen Revolution" Kutschma Munition an Militärs austeilen und Panzer in Stellung bringen ließ. Das disziplinierte Verhalten der Demonstranten habe die von der Staatsmacht erwünschte Eskalation verhindert, ist Kurykin überzeugt: "Es gab keine legale Gelegenheit die Sicherheitskräfte einschreiten zu lassen." Geholfen habe auch die Angst Kutschmas, bei einem Gewalteinsatz so wie MiloÇsevic´ in Den Haag zu landen.

Dass die Ereignisse rund um die Präsidentenwahl in der Ukraine knapp an einer gewalttätigen Eskalation vorbeigeschrammt sind, bestätigt auch George G. Grabowicz, Wahlbeobachter und Professor für Ukrainische Literatur in Harvard. "Es ist wahr: Es wurde Munition verteilt und die Panzer rollten", sagt er. Grabowicz weiß aber, dass zu dem Zeitpunkt bereits große Teile des Geheimdienstes ins Lager des oppositionellen Kandidaten Viktor Juschtschenko übergelaufen sind - "Juschtschenko war zu jeder Zeit über die Truppenbewegungen informiert."

Zivilgesellschaft über Nacht

Auf die Frage, ob die "orangene Revolution" überhaupt eine Revolution war, antwortet Grabowicz mit Ja und Nein: Nein, weil das politische System nicht gestürzt wurde; Ja, weil es zu einer vollkommenen Veränderung der Mentalität in der Bevölkerung gekommen ist, von einem Tag auf den anderen in der Ukraine eine Zivilgesellschaft erwacht ist.

"Soviel anderes Dioxin"

Allein die Kombination mehrerer Faktoren habe diesen bis in die jüngste Vergangenheit undenkbaren gesellschaftlichen Prozess in Gang gebracht, sagt Grabowicz, der als Gründer und Herausgeber des oppositionellen Monatsmagazins "Krytyka" die Ereignisse in der Ukraine sehr genau verfolgt: Juschtschenko ist mehr und mehr in die Rolle des charismatischen Führers hineingewachsen, sagt Grabowicz, die Jugend des Landes habe das Heft in die Hand genommen und eine veränderte Presselandschaft - Internet und ein unabhängiger Fernsehsender - konnten der übermächtigen Staatspropaganda ausreichend Wind aus den Segeln nehmen.

"Nach den kleinen Ungarn, den kleinen Tschechen, kleinen Polen, Esten, Litauer zeigten sich jetzt die kleinen Ukrainer größer als erwartet", sagt der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch gegenüber der Furche: "Die Geopoetik hat sich gegen die Geopolitik durchgesetzt." Es wäre aber fatal, warnt er, anzunehmen, die Schlacht um eine demokratische Ukraine sei schon gewonnen. Noch herrsche soviel Lüge, soviel Gewalt, soviel Verleumdung - "soviel anderes Dioxin im Land", sagt Andruchowytsch. "Anders als sowjetisch sein", dieser Wunsch sei allen Unterstützern von Viktor Juschtschenko gemeinsam, weiß der Schriftsteller. So wie die anderen Demonstranten für eine freie Ukraine erwartet sich auch er in Zukunft "einen starken Präsidenten, aber keinen Diktator".

Evolution nach Revolution

Serhiy Kurykin hofft, dass mit der Wahl am 26. Dezember der "demokratische Prozess unumkehrbar" wird - "der 26. kann und darf kein Schlusspunkt sein, der demokratischen Revolution muss eine demokratische Evolution folgen". Kurykin pocht in diesem Prozess auf die "permanente Assistenz" durch die EU, "die politische Aufmerksamkeit darf jetzt nicht mehr nachlassen".

Die Europaabgeordnete Rebecca Harms klopft sich schuldbewusst an die Brust: Im Nachhinein ist es ihr unverständlich, wieso Europa so spät und so langsam auf die Wende in der Ukraine reagierte - Der Schriftsteller Juri Andruchowytsch zeigt ihr eine Landkarte: Es gibt keinen einzigen Wassertropfen in der Ukraine, der nicht irgendwann in den Atlantik fließt, sagt er: "Bedeutet das nicht, dass die Ukraine mit all ihren Adern zu Europa gehört?"

Die ukrainische Sängerin und diesjährige Siegerin des Eurovisions-Song-Contests, Ruslana Leschichko, hat vom ersten Tag an die "orange Revolution" unterstützt, für sie gekämpft, gesungen und gehungert.

Die Furche: Was ist Ihre Motivation sich so stark für die "orange Revolution" in der Ukraine zu engagieren?

Ruslana Leschichko: Ich will nicht länger in einem Land leben, in dem die Lüge regiert. Wie Millionen Ukrainer weiß auch ich nicht, was mit meinem Stimmzettel passiert ist. Deswegen bin ich vom ersten Tag der Proteste an auf dem Unabhängigkeitsplatz gewesen - wir haben für unsere Rechte, unsere Wahlentscheidung und unsere Würde gekämpft - und wir werden das so lange tun, bis die Wahrheit siegt.

Die Furche: Sind Sie zuversichtlich, dass die nächste Wahl am 26. Dezember demokratisch ablaufen wird?

Ruslana: Nein, die bösen Kräften in unserem Land nützen jede Chance, jeden Moment um die Wahlergebnisse zu manipulieren. Wir sind noch nicht am Ziel.

Die Furche: Am Höhepunkt der Auseinandersetzung sind Sie in Hungerstreik getreten ...

Ruslana: ... und ich werde es wieder tun, sobald sich die Lage wieder zuspitzt.

Die Furche: Hat Sie diese Revolution zu einer Politikerin gemacht?

Ruslana: Nein, ich bin und bleibe Sängerin und ich lasse mich auch nicht in irgendwelche politische Kampagnen verwickeln. Aber das hier ist etwas anderes: Jetzt geht es darum, dass uns das Recht vorenthalten wird, so zu leben, wie wir es entschieden haben. Aber die letzten Wochen haben uns unsere Würde zurückgegeben. Wir haben unsere Meinung über uns selber geändert, jetzt soll auch Europa seine Meinung über uns ändern. Nach wie vor gibt es nicht genügend Wahlbeobachter aus dem Westen - ich lade alle aus der EU ein, ihren Weihnachtsurlaub in der Ukraine zu verbringen und uns zu unterstützen.

Die Furche: Und nach der hoffentlich erfolgreichen Revolution - werden Sie wieder "nur" singen?

Ruslana: Ich habe auch viele Fans in der Ostukraine, und ich möchte meine Popularität nutzen, um zwischen der West- und der Ostukraine zu vermitteln. Ich sehe da große Chancen auf Erfolg, und die will ich nützen. WM

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