Für den Politologen Anatolij Kruglaschow sind die Wahlen in der Ukraine eine politische Richtungsentscheidung - nach Europa oder näher zu Russland hin.
Zwischen dem Bekanntwerden der massiven Wahlfälschung und ihrer Bestätigung durch das oberste Gericht der Ukraine fanden in der westukrainischen Stadt Czernowitz Versammlungen statt, für die es in deren Geschichte keine Parallelen gibt. Bereits am 21. November gingen Tausende auf die Straße, um der Staatsmacht zu zeigen, dass ein manipulierter Sieg von Ministerpräsident Janukowitsch nicht akzeptiert würde.
Das Gros stellten Studierende und Belegschaften verschiedener Firmen. Kein Wunder, gehören doch die Rektoren der Universität und der Medizinischen Hochschule dem lokalen Ableger des oppositionellen "Komitees der Nationalen Errettung" an. Die Direktorin eines exportorientierten Textilunternehmens und bisherige Anhängerin von Viktor Janukowitsch führte Mitarbeiter höchstpersönlich zum Versammlungsort im Stadtzentrum. Während sich die Stadtverwaltung kaum einen Tag nach Veröffentlichung des vorläufigen Endergebnisses auf die Seite der 75 Prozent Juschtschenko-Wähler in der Region stellte, erklärte sich der Regionalrat erst nach massivem Druck der Demonstrierenden mit der mehrheitlichen Meinung der Wähler solidarisch. Gleiche Beschlüsse fassten die Regionalräte in Lutzk, Tscherkassy, Ternopil, Lemberg und Iwan-Frankiwsk.
Furchtlose Jugend
Anatolij Kruglaschow, Leiter der Abteilung für Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Czernowitz, sieht in der Furchtlosigkeit der jungen Leute einen der Gründe für die bereits über zwei Wochen dauernden öffentlichen Versammlungen, mit denen die Opposition ihre Schritte im Kiewer Parlament und vor Gericht unterstützt. Doch im Grunde geht es um eine für alle wichtige politische Richtungsentscheidung. Der seit 1994 amtierende Präsident Leonid Kutschma und zahlreiche Mitglieder seiner Regierungen wurden häufig mit Vorwürfen der Korruption, der Gesetzesverletzung, der Konzentration der ökonomischen Reichtümer in den Händen weniger und der politischen Ineffizienz konfrontiert. Kutschma ist es zwar immer wieder gelungen, seine Regierungen vom Parlament bestätigen zu lassen. Allerdings fanden viele notwendige Reformen nicht statt, weil für wichtige Projekte der Regierung die nötigen Mehrheiten fehlten. Dies förderte das autoritäre Regieren der Staatsverwaltung von den Ministerien bis in die Gemeinden, wo sich Konflikte zwischen Staatsverwaltung und den Organen der Selbstverwaltung häuften.
Druck aus Russland
Den größten Skandal verursachte Ende der neunziger Jahre Ministerpräsident Lasarenko, der sich mit Dollarmillionen aus dem Staatsvermögen zuerst in die Schweiz und dann in die USA absetzte. Gleichzeitig sank der Lebensstandard der Bevölkerung rapide, weil es nicht gelang, die wirtschaftlichen Strukturen rasch umzubauen. Obwohl im Jahr 2000 die Wirtschaft wieder zu wachsen begann und das Plus seither jährlich um die zehn Prozent liegt, ist das Produktionsniveau heute weit unter jenem von 1990. Die unerfüllten Erwartungen veranlassten Millionen Menschen dazu, ständig oder zeitweilig das Land zu verlassen. Zu zusätzlichen Spannungen führte die in den letzten Monaten von Präsident Kutschma vollzogene deutliche Hinwendung zu Russland.
Der Beschluss zur Teilnahme der Ukraine an dem von Russland initiierten "Gemeinsamen Wirtschaftsraum" und die Distanzierung von der NATO stießen bei einem Teil der ukrainischen Gesellschaft auf Skepsis. Damit war allerdings nicht nur ein Vorwurf an die ukrainische Führung verbunden, sondern auch das Gefühl, dass Russland die von seinen Erdöl- und Erdgaslieferungen ohnehin abhängige Ukraine zusätzlich unter Druck setze. Im Herbst 2003 entzündete sich ein Streit daran, dass Russland begann, einen Damm von der Halbinsel Taman durch die Straße von Kertsch zur ukrainischen Insel Tusla zu bauen. Die Ukraine sah darin eine Gefahr für seine territoriale Integrität. Der Bau wurde erst nach einer Vereinbarung zwischen den Präsidenten beider Länder eingestellt.
Unzufriedenheit mit Eliten
Für den Politologen Anatolij Kruglaschow ist daher klar, dass ein Teil der ukrainischen Gesellschaft den Kampf für faire Wahlen als Einsatz für die Souveränität des Landes betrachtet. Andererseits wäre es falsch, den Unterstützern von Viktor Janukowitsch pauschal vorzuwerfen, die Souveränität der Ukraine in Frage zu stellen. Wirtschaftliche Probleme und Unzufriedenheit mit den politischen Eliten gibt es auch in den östlichen Gebieten von Lugansk, Charkiw, Dnipropetrowsk oder Donezk, ebenso wie im Süden von der Krim bis Odessa. Dass es trotzdem zu einer politischen Polarisierung zwischen östlichen und südlichen Gebieten auf der einen und der Zentral- und Westukraine auf der anderen Seite gekommen ist, liegt vor allem an unterschiedlichen politischen Kulturen und der unterschiedlichen Wirtschaftsstruktur.
In der Westukraine sind nach dem Ende der Sowjetunion zahlreiche Großbetriebe - teilweise Rüstungsindustrie - geschlossen worden. Heute entwickeln sich hier vor allem Klein- und Mittelbetriebe, und auch die verbliebenen Großbetriebe hoffen auf Investoren aus dem Ausland. Der Westen würde weiters stark von Visaerleichterungen profitieren, die man sich von der Europäischen Union erhofft. Im stark industrialisierten Osten und Süden dominiert hingegen die Meinung, dass Zentralismus und Staatseigentum auch in Zukunft in Politik und Wirtschaft bestimmend sein sollten. Die Bergarbeiter der Kohlenreviere des Donbass sind nicht zuletzt deshalb auf der Seite von Janukowitsch, weil der Staat während seiner Regierung die ausstehenden Löhne bezahlte. Von ihm wird erwartet, die im internationalen Vergleich teure Kohle- und Metallurgieindustrie vor der Konkurrenz des Weltmarktes zu schützen. Und Russland wird dabei als wichtiger Verbündeter betrachtet, wobei die russischsprachigen Medien diese Orientierung verstärken.
Krise als Chance
Die Beschlüsse einiger Regionalparlamente nach der Anfechtung des Wahlergebnisses durch die Opposition, unter bestimmten Umständen die Trennung ihrer Gebiete von der Ukraine auszurufen, machen Anatolij Kruglaschow besorgt. Es gebe auch Anzeichen dafür, dass Teile der staatlichen Institutionen ihre Funktionen nicht mehr voll ausführen können, weil wichtige Entscheidungen nicht getroffen werden. Doch andererseits liege in der Krise auch eine Chance. Die Ukraine könne aus ihr gefestigter hervorgehen. Und die Gewährung von mehr föderalen Rechten würde nach Ansicht des Politologen besonders der Grenzregion von Czernowitz nützen.
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