Die Vertikale der Ohnmacht

Werbung
Werbung
Werbung

Wladimir Putin dürfte am Wochenende erneut russischer Präsident werden. Doch die Aussichten, dass er die großen Probleme des Landes lösen kann, sind dürftig.

Es war Februar und die Präsidentenwahlen standen vor der Tür, als der junge Interimspräsident Russlands zur Feder griff und einen offenen Brief an seine Wähler formulierte. Jedes Wort davon atmete die Stimmung und die Wahrnehmung der Bürger. Er schrieb: "Der geschwächte Wille des Staates ist für den Niedergang der russischen Wirtschaft und die weit verbreitete Korruption verantwortlich.“ Russland brauche eine "Diktatur des Gesetzes“, also gleiches Recht für alle Bürger und eine "Vertikale der Macht“ zur Ausschaltung der räuberischen Eliten. Das Schreiben war ein voller Erfolg. Wladimir Wladimirowitsch Putin wurde im März 2000 Präsident Russlands.

Moskau, zwölf Jahre später: Wladimir Wladimirowitsch Putin war inzwischen acht Jahre Präsident und vier Jahre Premierminister. Nun schreibt er wieder Wahlmanifeste: "Unser Hauptproblem besteht in einer unzureichenden Kontrolle über die Vertreter des Staates. Es geht um systemimmanente Korruption, wenn man die Sache beim Namen nennen will.“

Diese Sätze sind 2012 kein Erfolg bei den Wählern mehr. Im Gegenteil. Sie riechen kräftig nach einem, großen, zwölf Jahre dauernden Scheitern und danach, dass Wladimir Wladimirowitsch Putin gemessen an seinen eigenen Versprechen und Vorhaben ein ohnmächtiger Mann ist, der sich mit der Gängelung der Medien und der systematischen Demontage der Opposition an der Macht hält.

Dabei kann sich Putin mit ein paar imposanten Zahlen schmücken. Seit 1999 verbuchte Russland nach Jahren des Chaos und der Stagnation unter Boris Jelzin einen rasanten gesellschaftlichen Aufwärtstrend. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich in zehn Jahren beinahe verdoppelt, die Handelsbilanzsumme verdreifacht, die Löhne sind inflationsbereinigt um 142 Prozent gestiegen, der vielgepriesene Mittelstand umfasst nun 25 Prozent der Werktätigen.

Steigende Abhängigkeit von Rohstoffen

Die Pensionen haben sich verdoppelt und werden pünktlich ausbezahlt. Die Zahl der Morde hat sich halbiert, ebenso wie jene der Selbstmorde und Alkoholvergiftungen. Diese Bilanz ließe sich fortsetzen, stünde dahinter eine zielgerichtete Politik. Doch die Explosion der Wirtschaftsdaten sind weniger einem Wunder an Produktivität und Innovation anzurechnen als vielmehr dem steigenden Öl- und Gaspreis.

Es ist diese Abhängigkeit, die Putin selbst als eine "erniedrigende Rohstoffabhängigkeit“ bezeichnet und langfristig als eine "Bedrohung“ für sein Land. So weit die Rhetorik. Nach Darstellung der deutschen Russlandexpertin und Bundestagsabgeordneten Marieluise Beck ist aber die Abhängigkeit des Staates von seinen Einkünften aus Erdöl und Erdgas dramatisch gestiegen. Waren es 2000 noch 30 Prozent der Budgeteinkünfte Russlands aus Geschäften mit Erdöl und Erdgas, so waren es 2010 nahezu 50 Prozent. Die Folge davon ist eine steigende Abhängigkeit von den Entwicklungen an den internationalen Ölmärkten, massive Preisschwankungen allein könnten den Staat schon destabilisieren. Der deutsche Politologe Peter W. Schulze sieht die Gründe für die russischen Fehlentwicklungen in den 70er-Jahren begründet. Damals schottete sich die Sowjetunion systematisch von der Automatisierung der Industrie und den damit zusammenhängenden Neuerungen in der Technologie ab - bis hin zu den neuen Kommunikationstechniken - Internet und Digitalisierung. "Das hat Russland hoffnungslos zurückgeworfen“, so Schulze.

Mit gravierenden Nachwirkungen bis heute. Die Industrie basiert nach wie vor auf veralteten kostenintensiven Methoden und ist - bis auf den Rohstoffbereich - nicht konkurrenzfähig. Das hängt auch mit einem gewaltigen Brain Drain zusammen, der nach der Wende die Russlands Wissenschaft erfasste: Nach Darstellung Schulzes wanderten mehr als eine Million hochqualifizierter Arbeitskräfte ab.

Fazit: Das Land büßte massiv an Innovationskraft ein. Ein Vergleich: In Deutschland werden pro eine Million Einwohner jährlich 75 Patente angemeldet, in Russland 0,5. Bei der Hochtechnologie im Industriebereich ist der Abfall noch krasser: In den USA werden jährlich 36,5 Patente pro Million Einwohner in diesem Bereich angemeldet. In Russland sind es 0.

In dieser Situation versuchten sich Putin und später Medwedew an einer großen "Modernisierung“, ein Programm, das Milliarden Rubel verschlingt - aber bisher kaum Erfolge zeigt.

Zunächst versuchte die Regierung emigrierte Experten zur Rückkehr zu bewegen. Doch statt der nun hochbezahlten russischen Elite in den vereinigten Staaten, Kanada und Israel kamen jene, die sich dort nicht hatten durchsetzen können und dann auch in Russland zweite Wahl wurden. Die Investitionen fließen großteils in Modernisierungscluster, wie etwa das Projekt eines russischen Silicon Valley in Skolkowo. "Das Problem dieser Projekte ist, dass sie ohne jede Anbindung zur Realwirtschaft in Russland sind“, sagt Stefan Meister von der deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Deshalb finden Produkte und Neuentwicklungen im Inland keinen Absatz, es fehlen auch die Industrieunternehmen, die neue hochtechnisierte Entwicklungen abfragen, oder verlangen würden.

Massiv gefördert werden die negativen Trends durch die Rechtsunsicherheit, die russischen aber auch ausländischen Investoren begegnet, sobald sie mit der Korruption und der Bürokratie abseits solcher "Modernisierungsinseln“ (Stefan Meister) in Berührung kommen. Kaum ein Geschäft in Russland, das nicht durch Korruption besiegelt wird, wenn man Wladimir Putin glaubt: "Es dauert Monate, ehe man eine Firma gründen kann. In jede Verwaltungsbehörde muss man mit Bestechungsgeldern gehen“.

Verdoppelter Apparat

Gibt es aber Konsequenzen aus diesem Eingeständnis? Der Beamtenapparat wurde nicht reformiert und verkleinert, sondern aufgebläht. Heute arbeiten mehr als doppelt so viele Angestellte im öffentlichen Dienst als 1989. Ex-Staatschef Michail Gorbatschow meint die Beamtenmisere sei "schlimmer als zu den schlimmsten Zeiten der Sowjetunion.

Am massivsten leidet darunter der Rechtsstaat. Die russischen Gerichte sind zwar zügig in der Aburteilung von angeklagten Wirtschaftskriminellen, aber dafür umso weniger um ordentliche Verfahren bemüht. Von den 800.000 Häftlingen Russlands sind 100.000 wegen Wirtschaftsdelikten verurteilt. "Viele dieser Delikte sind durch gefälschte Beweise und manipulierte Prozesse zustande gekommen so Russlandexpertin Marieluise Beck.

Gibt es einen Weg weg von Putins System des gelenkten Staates, der durch Ineffizienz und mangelnde Freiheit die Wirtschaft ebenso knebelt wie die Zivilgesellschaft und den nach Modernisierung sterbenden Mittelstand? Vor allem aber: Gibt es diesen Weg mit Putin? Die einzige Antwort hat der mutmaßlich neue Präsident selbst gegeben: "Wenn wir den bisherigen Weg weiter beschreiten, werden wir nicht die notwendigen Fortschritte machen. Wir würden sogar die Existenz des Landes aufs Spiel setzen. Ich sage das ohne jede Übertreibung.“ Am Sonntag wählt Russland seinen Weg.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung