Stagnation frisst Maidan-Revolution

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Fünf Jahre nach dem Umsturz in der Ukraine sind 78 Prozent der Ukrainer unzufrieden mit der heutigen Entwicklung. Unser Reporter hat in Kiew mit Teilnehmern und Sympathisanten von damals gesprochen.

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Fünf Jahre nach dem Umsturz in der Ukraine sind 78 Prozent der Ukrainer unzufrieden mit der heutigen Entwicklung. Unser Reporter hat in Kiew mit Teilnehmern und Sympathisanten von damals gesprochen.

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Die Pizzeria Veterano in der Sofyjiwska-Straße, ganz in der Nähe vom Maidan in Kiew, ist ein Ort, an dem gefühlt jeder westliche Korrespondent schon mal gewesen ist. Bei Veterano, militärische Bilder, die ukrainische Nationalflagge und Gewehre an den Wänden, arbeiten nämlich überwiegend ukrainische Ex-Soldaten. Am Wochenende stehen die Menschen hier auf der Straße Schlange, um reinzukommen.

Der Gründer Leonid Ostalzew - Kampfname Maiblume -hat selber im Donbass gekämpft. Zurück in Kiew hat er die Pizzeria aufgemacht, sich eine Existenz und seinen Kameraden von damals einen Weg in die Resozialisierung geschaffen. Kriegsveteranen, die Pizza machen -das ist eine Geschichte ganz nach dem Geschmack internationaler Medien: "Alle zwei Wochen schauen Journalisten hier vorbei. Jetzt, kurz vor dem Maidan-Jahrestag, natürlich noch häufiger", erzählt ein Kellner.

Am 21. November jährt sich der Revolutionsbeginn zum fünften Mal. An dem Tag hatte die Staatsführung um den später nach Russland geflohenen Präsidenten Wiktor Janukowitsch darauf verzichtet, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. In der Folge kam es zu immer größeren Protesten. Nach dem blutigen, bis heute nicht aufgeklärten Massaker im Februar 2014 setzte die neue, prowestliche Regierung den Kleptokraten Janukowitsch ab. Russland annektierte kurz darauf die südukrainische Halbinsel Krim, es folgte der Krieg im Donbass mit über 10.000 Todesopfern -die Zahl steigt bis heute.

Bescheidene Umfragen

"Hallo, wir bräuchten zehn neue Spezialbatterien für unser Bataillon, können sie die liefern?", ein Mitvierziger in Camouflage steht am Tresen und gestikuliert am Telefon. Es ist früher Abend und die Pizzeria ist jetzt schon brechend voll. Am Nebentisch sitzen Andrij und Olexij, beide Mitte 30 und ursprünglich aus der Westukraine. Der eine aus Lwiw und der andere aus Ternopil. Sie haben sich während ihres Physikstudiums an der Lwiwer Universität kennengelernt, danach haben sie zusammen in einer Autowerkstatt gearbeitet. Im Dezember 2013 kamen sie dann auf den Maidan, schlossen sich den Selbstverteidigungskräften an, danach kämpften sie für ein Jahr in einem Freiwilligenbataillon im Donbass.

Eine große Umfrage der führenden ukrainischen Meinungsinstitute zeigte zuletzt: 78 Prozent der Ukrainer halten die derzeitige Entwicklung des Landes für falsch. 2013 lag dieser Wert noch bei 52 Prozent, eine Steigerung von 25 Prozent. Haben Andrij und Olexij das Gefühl, umsonst gekämpft zu haben? "Das nicht. Wenn ein sogenannter Präsident die Miliz auf Demonstranten hetzt, wenn Russland unser Land offen angreift, da kann man nicht tatenlos zuschauen", sagt Andrij, der Brille und einen blonden Bart trägt, nachdenklich. Die beiden sind überzeugte Patrioten, wollen mit Nationalismus aber nichts zu tun haben.

Die politische Misere der Ukraine ist längst im Privaten angekommen: "Meine Frau und ich hatten große Probleme, als die Nationalwährung Hrywnja immer weiter an Wert verlor", erklärt Olexij. "Wir haben vor dem Maidan einen -Gott sei Dank eher kleinen -Dollar-Kredit aufgenommen, damals war das noch günstig. Seitdem ist die Hrywnja sehr stark gesunken, während unsere Gehälter die gleichen geblieben sind. Auf einmal mussten wir das Doppelte bezahlen -und haben uns nur mit großen Schwierigkeiten mit der Bank einigen können."

Heute sind Andrij und Olexij selbstständig, Kleinunternehmer - und leiden unter der Alltagskorruption: "Wir kommen mit unseren kleinen Kaffeeständen am Rande der Stadt gerade so über die Runden", sagt Andrij. "Aber wir befinden uns da, anders als normale Cafés, im rechtlosen Raum - bei zwei Behörden hieß es ganz konkret, wir sollten bezahlen, um die Genehmigung zu beschleunigen. Das hat uns tief enttäuscht: Wir dachten eigentlich, dass es diese direkte Korruption nicht mehr gibt."

Die beiden wollen trotzdem weitermachen, ihre Kraft schöpfen sie auch aus ihren Erfahrungen aus der Post-Maidan-Zeit: "Unser Leben ist interessanter geworden, wobei wir im Donbass viel Tragisches erleben mussten, worüber ich immer noch nicht sprechen kann", raunt Olexij. Vor dem Maidan verlief ihr Leben noch in ruhigeren Bahnen, geordneter. "Wir wären aber nie auf die Idee gekommen, uns selbstständig zu machen. Wir sind jetzt völlig andere Menschen, auch wenn wir manchmal Zukunftsängste haben."

Keine Chancengleichheit

Doch die Enttäuschung über die Entwicklung ihrer Heimat sitzt tief: "Kampf gegen Korruption -Fehlanzeige. Gleiche Chancen für kleine und mittlere Unternehmen - Fehlanzeige.""Über die Politik an sich schweige ich lieber", sagt Andrij, der sich über neue Proteste in absehbarer Zeit nicht wundern würde, sollten Timoschenko oder Poroschenko bei den Präsidentschaftswahlen 2019 gewinnen.

Die Meschyhirska-Straße im Kiewer Kultbezirk Podil ist bei jungen Ukrainern und Ausländern beliebt. Hier findet man Mitte November bei minus vier Grad noch Leute, die des Nachts mit ihren Drinks vor den Clubs stehen. Die Barmeile liegt in unmittelbarer Nähe der berühmten Mohyla-Akademie. Deren Studenten hatten sich in der ersten Phase des Maidan inbrünstig engagiert. Hier trifft man auf Leute, die eine stärkere, schnellere Annäherung an die EU herbeisehnen.

Anzhelika (26) und Alina (21) gehen kurz mit einem Glas Wein auf die Straße, um eine zu rauchen. Die gebürtige Kiewerin Anzhelika war seit dem zweiten Maidan-Tag dabei, Alina lebte damals noch im ostukrainischen Charkiw, gehörte aber von Anfang an zu den Sympathisantinnen der Revolution -vor allem, weil sie eine stärkere Verbindung zwischen Kiew und Brüssel wollte. Anzhelika ist Philologieabsolventin, engagiert sich derzeit in mehreren NGOs: "Im Augenblick sind so viele Türen für junge Ukrainer offen wie noch nie. Alina zum Beispiel hat vor kurzem ein Praktikum in Wien gemacht, das war zu meiner Studienzeit noch viel schwieriger."

Für beide ist die Visafreiheit für den Schengen-Raum, die seit Sommer 2017 gilt, eine herausragende Entwicklung. Seit Visapflicht und Visagebühr weggefallen sind, haben die Billigflieger Ryanair und Wizz Air ihr Routenangebot zwischen der Ukraine und den EU-Staaten ausgebaut. "Wir waren dieses Jahr schon in Budapest, Prag und Krakau", erzählt Alina.

Dennoch sei es mit einem Durchschnittseinkommen von 300-400 Euro deutlich schwieriger geworden, zurechtzukommen, "das ist nun extremer als vor dem Maidan". Alinas Eltern mussten ihr Café in Charkiw schließen, weil Nebenkosten und Miete zu hoch wurden: "Gut ist das natürlich nicht, aber so geht es vielen. In Zeiten der Veränderungen muss man sich umorientieren."

Und nun das Superwahljahr

Angesichts des anstehenden Superwahljahres 2019 mit Parlamentswahlen im Herbst und der Präsidentschaftswahl am 31. März, sind die jungen Frauen skeptisch. "Man kann schon jetzt sagen, dass die Vertreter des alten Systems uns weitere fünf Jahre regieren werden. Ob die ukrainische Demokratie das ertragen kann, ist fraglich", findet jedenfalls Alina. "Eine wirklich wählbare politische Kraft gibt es für uns nach wie vor nicht", setzt Anzhelika fort. Gleichzeitig versuche Präsident Poroschenko, mit seiner patriotisch-nationalistischen Agenda im Wahlkampf zu mobilisieren: "Ich bin ja selbst für eine Ukrainisierung, aber Themen wie Sprache, Glaube und Armee haben im 21. Jahrhundert nichts zu suchen."

Dennoch, Alina will in der Ukraine bleiben -trotz ihrer Auslandsaufenthalte. Mit dieser Einstellung gehört sie in ihrer Heimat allerdings zur Minderheit. Das wird eine der Herausforderungen, mit denen die Politik die nächsten fünf Jahre zu kämpfen haben wird. Es scheint, als laste das Erbe des Maidan schwer auf den Schultern eines politischen Systems, das fünf Jahre nach der Revolution noch keinen Weg gefunden hat, der Begeisterung und den Erwartungen der Menschen von damals gerecht zu werden.

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