"Die Durchlüftung hat begonnen"

Werbung
Werbung
Werbung

Oksana Sabuschko, führende ukrainische Schriftstellerin, war Mitstreiterin der orangen Revolution. Soeben ist ihr Roman "Feldstudien zum ukrainischen Sex" (s. furche Nr. 16) auf Deutsch erschienen. Im Interview analysiert Sabuschko die epochalen Veränderungen im Land; dabei ortet sie einen gefährlichen Mangel an Reflexion über das, was geschehen ist.

DIE FURCHE: Ihr Buch 'Feldstudien über den ukrainischen Sex" haben Sie vor über zehn Jahren geschrieben. Jetzt ist es auf Deutsch erschienen. Ist das, was wir lesen, schon veraltet?

OKSANA SABUSCHKO: Die beschriebenen Problematiken haben sich existentiell nicht geändert. Vielmehr hat sich die Brisanz der Fragen nach der Revolution verschärft. Die Gesellschaft wurde sich bewusst, dass wir im Grunde nicht besonders weit vorangekommen sind. Aber würde ich heute den Roman schreiben, wäre er wahrscheinlich nicht so bitter und schmerzhaft. Ich schaue heute optimistischer auf die Zukunft unseres Landes und seiner Menschen. Übrigens erhielt das Buch nach der Orangen Revolution einen neuen Anstoß. Während die Kritiker Ende der 90-er Jahre den Akzent auf die Frage der weiblichen Identität legten, so wird es heute mehr als Buch über die nationale Identität rezipiert.

DIE FURCHE: Die Sängerin Ruslana sagte kürzlich, dass es sich nun leichter im Land atmet. Sie hatten in Ihrem Buch nationale Traumata ganzer Generationen bearbeitet. Wird nun auch mehr über die Traumata gesprochen?

SABUSCHKO: Ja. Die Durchlüftung hat begonnen, auch auf dem Informationssektor. Mit der Meinungsfreiheit kam trotz allen Chaos' und allen Informationsmülls Bewegung ins Land. Das Hauptresultat ist, dass man die Gesellschaft ab nun nicht mehr vom politischen Leben ausschließen kann. Wir sind keine Ex-Sowjetrepublik mehr, sondern wirklich eine junge Demokratie.

DIE FURCHE: Trotz der unerbittlichen politischen Kämpfe und der Zerstrittenheit des orangen Lagers?

SABUSCHKO: Im Großen und Ganzen beeinflusst das meine Sicht der allgemeinen Perspektiven für die Entwicklung des Landes nicht besonders. Die Hauptsache ist, dass das moralische Potenzial in der Gesellschaft spürbar wird. Ungeachtet aller Korruption, aller sittlichen Verdorbenheit und allen Drecks haben wir uns wider Erwarten als starkes Volk bei der Revolution erwiesen.

DIE FURCHE: Welche Brüche aber sind geblieben? Ich denke etwa an die Teilung von Ost und West...

SABUSCHKO: Ich habe diese Teilung immer für mythologisiert gehalten. Sie ist ein populärer politischer Schachzug, der künstlich aufgeblasen wird. In Wirklichkeit ist das Land weitaus homogener.

DIE FURCHE: Fragen wir anders: Sie fokussieren im Buch das System der sozialen Lügen. Wo sind heute die drohenden Sollbruchstellen bzw. wie kann ein neues System von Stereotypen auftauchen, die für die Menschen und ihre Beziehungen zerstörerisch sind?

SABUSCHKO: Eine gute Frage: Einstweilen sehe ich keine Gefahr irgendeiner vergiftenden Pseudomythologie. Bei uns verfehlte ja die einzige Partei, die eine Rückkehr zur Sowjetunion propagiert, schon zwei Mal den Einzug ins Parlament. Der Versuch einer einheitlichen staatlichen Ideologie fehlt, und auch einer Religion, die Anspruch auf ein konfessionelles Monopol erheben würde. Unser Problem ist also nicht ideologischen Charakters, wie bei den Russen, sondern sittlichen Charakters. Die Konturen der Identität und die kulturelle Infrastruktur sind zerstört. Infolge der Korruption ist die Bildung auf sehr niedrigem Niveau - und auch die Diskussion über die Identität des Landes; wir haben sogar zu wenig qualifizierte Plattformen von Zeitungen und Journalen dafür. Das sind unsere empfindlichsten Fragen heute.

DIE FURCHE: Werden die orangen Ereignisse von der Kunst schon erfasst oder reflektiert? Und wenn, wie?

SABUSCHKO: Scheußlich. So widerlich, wie nur möglich. Die ukrainische Kultur erwies sich leider als viel zu schwach, um den Politikern die Revolution zu entreißen. So gut wie alle Filme über die Revolution sind schlecht, agieren mit Lüge und allen Stereotypen. Bei allen spürt man die Hand des politischen Sponsors. Abermals kam eine bestimmte Kette rein politischer Mythen, die ausgebeutet werden, heraus. Was fehlt, ist der Mensch, der Mensch der Revolution.

DIE FURCHE: Einerseits sagen Sie, es werde offener geredet, andererseits, es fehle die Reflexion...

SABUSCHKO: Früher gab es eine Mauer zwischen der Gesellschaft und der Politik. Diese Mauer ist gefallen. Heute haben wir das Bewusstsein, dass die Politiker Leute sind, die wir für eine bestimmte Zeit ausgewählt und angestellt haben. In diesem Sinne haben sich das Bewusstsein und der Diskurs geändert. Auf dem Niveau einer gewissen konzeptuellen Reflexion aber haben wir einen Mangel, der im Mangel an Kultur begründet ist. Das ist unser ernsthaftestes Problem. Eine Sache nämlich ist es, Geschichte zu machen, eine andere, ihre Früchte zu gebrauchen. Denn das, was nicht reflektiert und zur Kultur wird, wird abermals entstellt und verzerrt.

DIE FURCHE: Sehen Sie eine Welle kultureller Reflexion kommen?

SABUSCHKO: Schwer zu sagen. Jedenfalls nicht auf dem Gebiet der Literatur. Eine gewisse Reflexion beginnt natürlich, etwa bei den neuen Live-Sendungen. Da wird beispielsweise über den Platz und die Rolle der Kultur in der zeitgenössischen Gesellschaft diskutiert. Es sind Anfänge von Zivilisation und Reflexion - ein Prozess des Erwachsenwerdens und der Selbsterkenntnis. Lebendiger geworden ist auch die Diskussion darüber, wie uns die anderen sehen. Durch den Eisernen Vorhang und das Regime waren wir ja bisher abseits des Dialogs gewesen, nun kommen immer mehr Leute zu uns. Bekanntlich aber erkennt man sich selbst ja erst, nachdem man mit einem anderen in Dialog tritt.

DIE FURCHE: Das tut man ja auch beim Sex, womit wir wieder bei Ihrem Buch wären...

SABUSCHKO: Mich hat interessiert, wie die Geschichte, die sich in den Generationen anhäuft, unsere Gegenwart formt oder deformiert. Sie tut das aber auf der Ebene des Unterbewussten, das sind die Traumata der Generationen; diese Traumata wurden bei uns noch nicht ausgesprochen. Das ist wahrscheinlich gar nicht nur ein ukrainisches Problem. Die Spaltung in Sieger und Verlierer des Zweiten Weltkrieges, dieses ganze Schwarz-Weiß ist letztlich eine Entstellung und Halbwahrheit. Das Ungesagte, die erstickte Wahrheit, tritt unweigerlich mit gravierenden Folgen zutage und müsste erkannt und diagnostiziert werden. Im Buch ging ich davon aus, dass das auf dem unmittelbarsten und intimsten Niveau, wo der Mensch ja völlig nackt ist, zutage tritt. Beim Sex fallen die Hüllen, in die einen das Land und seine Kultur gewickelt haben.

Das Gespräch führte Eduard Steiner.

Poesie und Revolution

Oksana Sabuschko, Mitstreiterin der orangen Revolution, hat ein Philosophie-Studium abgeschlossen, am Philosophieinstitut der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften gearbeitet, war als Fulbright-Stipendiatin in Harvard und Pittsburgh und als Writer in residence 1992 an der Penn State University. 2001 unterrichtete sie in den USA. Gegenwärtig ist die 45jährige Sabuschko Vizepräsidentin des ukrainischen Pen-Zentrums, unterrichtet kreatives Schreiben an der Universität Kiew und schreibt regelmäßig für Zeitschriften und Magazine zu literarischen Themen. Sabuschko publizierte seit Mitte der 80er Jahre mehrere Lyrikbände (ein Auswahlband in englischer Übersetzung erschien 1996 in Toronto), mehrere Erzählungen und politisch-philosophische Studien, sowie 1996 den Bestseller-Roman 'Feldstudien zum ukrainischen Sex". Mit ihm wurde Sabuschko zur berühmtesten Schriftstellerin ihres Landes. Ihr Werk ist in mehrere Sprachen übersetzt und wurde u. a. mit dem Global Commitment Foundation Poetry Prize 1997 ausgezeichnet. Der Roman 'Feldstudien zum ukrainischen Sex" erschien heuer auf Deutsch im österreichischen Verlag Droschl (s. FURCHE Nr. 16, Bücher-Frühling, S. IV).

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung