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Literarische und fotografische Blicke auf verlorene europäische Peripherien.

Es gibt ebenso viele Arten des Verfalls, wie es Orte gibt", schreibt der norwegische Schriftsteller und Journalist Vetle Lid Larssen in seinem Essay über die Insel Vardø am östlichsten Zipfel Skandinaviens. "Die Europastraße E75, die in Sitia auf Kreta beginnt, endet hier. Auf einer Müllkippe. Weiter kommt man nicht." Der einst mythenumwobene äußerste Nordosten Europas erscheint alles andere als romantisch: "Innerhalb von zehn Jahren sind aus 3000 Einwohnern 2000 geworden. Aus 400 Arbeitsplätzen in der fischverarbeitenden Industrie acht." Denn auch in Norwegen haben die Sozialdemokratie und der freie Markt eine überraschende Ehe geschlossen - "und ihre Kinder hießen Kommerz, Zentralisierung und Gier." Eine Kultur, die in vielen Generationen gewachsen ist, ist plötzlich zum Verschwinden verurteilt.

Dieser essayistische Lokalaugenschein eröffnet eine einzigartige Bestandsaufnahme des heutigen Europa: hier werden nicht die Zentren aufgesucht, sondern die neuen Grenzen und Peripherien erkundet. Ein "Buch über letzte und verlorene Orte" ist entstanden, und die gibt es überall: in Rumänien und Portugal, in Russland und auf Sizilien, in der Ukraine wie in Irland.

Irland, Ukraine, Österreich

In den beiden letzteren Ländern haben sich Juri Andruchowytsch und Christoph Ransmayr umgesehen. Während Ransmayr mit Glaisín Álainn einen Ort der kollektiven Erinnerung und des Tanzes feiert, beschreibt Andruchowytsch den gescheiterten Kolonialisierungsversuch einer mächtigen österreichischen Holzfirma in der Gegend zwischen Stanislau und Mukatschewo.

"Ein abgründiges Stück Österreich" hat Karl-Markus Gauß aufgespürt: den TÜPL (so kürzen die Militärbürokraten Truppenübungsplatz ab) Allentsteig und seine Vorgeschichte: Hier haben nicht nur das Dritte Reich Dörfer umgesiedelt und die Rote Armee Gebäude zerstört - in Groß-Poppen etwa wurden "Kirche, Schloß und Häuser … vom österreichischen Bundesheer dem Erdboden gleichgemacht".

Die Geschichte konkretisiert sich in diesen literarischen Reportagen an konkreten Orten: im ehemaligen Parteibonzen-Viertel Tiranas etwa oder in dem kleinen litauischen Ort Virbalis, wo der (2005 bei den Wiener Festwochen aufgeführte) Autor Marius Ivaskevicius im Garten seiner Großmutter noch die Badewanne des Zaren gesehen hat, die im einst russischen Grenzbahnhof Wershbolowo gestanden war. Aber nicht dieser Zufallsfund ist interessant, sondern wie sich das 20. Jahrhundert in dem heutigen Provinzort spiegelt.

Ihre eigenen Geschichten erzählen die Fotokünstler dieses herausragenden Bandes, die Peripherien festhalten, die es bald nicht mehr geben wird.

LAST & LOST

Ein Atlas des verschwindenden Europas. Hrsg. von Katharina Raabe und Monika Sznajderman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 336 S., zahlr. Abb., geb., € 30,70

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