Czernowitz - © Foto: © Meridian Czernowitz Internationale literarische Korporation

Die Musen schweigen nicht in Czernowitz

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Lyrik in Zeiten des Krieges: In Czernowitz, der Stadt berühmter Poeten wie Paul Celan und Rose Ausländer, brachte das Lyrikfestival "Meridian Czernowitz 2014" Diskussionen über Kultur und Politik in Säle und auf Straßen - und viel und vor allem junges Publikum.

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Lyrik in Zeiten des Krieges: In Czernowitz, der Stadt berühmter Poeten wie Paul Celan und Rose Ausländer, brachte das Lyrikfestival "Meridian Czernowitz 2014" Diskussionen über Kultur und Politik in Säle und auf Straßen - und viel und vor allem junges Publikum.

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Ein Spätsommertag in Czernowitz. Während im Osten der Ukraine noch immer die Waffen sprechen, geht im Westen des Landes, am Ufer des Pruth, das Leben scheinbar weiter wie immer. Auf den ersten Blick fällt nur auf, dass auch an einem gewöhnlichen Arbeitstag, es ist Freitag, viele Frauen und Mädchen in traditionellen ukrainischen Trachten ihren Geschäften nachgehen und dass allerorten die Farben der blau-gelben Nationalflagge einem entgegen leuchten, beinah auf jeder Straßenlaterne, auf jedem Brückengeländer. Noch etwas: An jeder zweiten Ecke wird Geld gesammelt, für die Soldaten im Donbass.

Im Festsaal der altehrwürdigen Universität aber, im Marmorsaal, der bis auf den letzten Platz gefüllt ist, wird (zum fünften Mal) das Internationale Lyrikfestival Meridian Czernowitz feierlich eröffnet. Mit einer Schweigeminute: für jene Soldaten, die in Donezk und Luhansk "in diesen Stunden", das Wort geht dem Publikum sehr nahe, getötet werden. Dann erst wird das Motto des Festivals mitgeteilt: "Die Musen schweigen nicht".

Zeichen des Protests

Anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises hat Paul Celan 1960 eine (später viel zitierte) Rede gehalten: "Gewiß, das Gedicht - das Gedicht heute - zeigt, und das hat, glaube ich, denn doch nur mittelbar mit den - nicht zu unterschätzenden - Schwierigkeiten der Wortwahl, dem rapideren Gefälle der Syntax oder dem wacheren Sinn für die Ellipse zu tun, - das Gedicht zeigt, das ist unverkennbar, eine starke Neigung zum Verstummen". An den Titel dieser Rede, "Der Meridian", damit auch an den bekanntesten Sohn der Stadt, erinnert noch der Titel des Festivals, aber das Gedicht "heute" - in der Ukraine - zeigt keine Neigung mehr zum Verstummen, ist vielmehr vor allem Zeichen des Protests.

Das wird schon in den Eröffnungsreden unmissverständlich angesprochen. Die höchsten Repräsentanten der Stadt und der Universität betonen, wie wichtig es sei, eine "freie Diskussion über Werte" zu führen, und sie beschwören die große kulturelle Tradition der Bukowina, der "vergessenen Mitte Mitteleuropas", nicht ohne daran die Hoffnung zu knüpfen, das Band zwischen der Europäischen Union und der Ukraine möge nie mehr zerreißen. Eric Celan, der Sohn des Autors, unterstützt diese Plädoyers ausdrücklich mit Hinweis auf die "Meridian"Rede, und die aus Kiew angereisten Botschafter Deutschlands und Frankreichs versprechen, der Ukraine nach Kräften zu helfen, wo sie nur können.

Czernowitz hat nicht nur Paul Celan ein großes Denkmal gewidmet; man erinnert auch gerne an weitere Söhne und Töchter der Stadt, die ihr zu jenem Nimbus verholfen haben, von dem sie immer noch zehrt: u. a. Walther Rode, Joseph Gregor, Alfred Margul-Sperber, Georg Drozdowski, Rose Ausländer, Erwin Chargaff, Alfred Kittner, Gregor von Rezzori, Immanuel Weissglas, Selma Meerbaum-Eisinger. Gäbe es diese Erinnerung nicht, wäre die Stadt, in der heute rund 250.000 Einwohner leben, eine Bezirksstadt wie viele andere Städte auch. So aber wird die Erinnerung vor allem an die Spätphase der Monarchie wieder hochgehalten, auch auf dem Festival, ganz im Gegensatz übrigens zu Celans Büchner-Preis-Rede, in der er doch ausdrücklich darauf hingewiesen hat, "keiner Monarchie und keinem zu konservierenden Gestern" huldigen zu wollen.

Es ist kein Zufall, dass das "Gestern" in vielen Diskussionsrunden wieder eine enorme Bedeutung erlangt, spielt doch die Angst vor dem "Morgen" immer mehr mit. Auch die Angst, dass der neue, zumeist noch sehr zurückhaltende Patriotismus leicht umkippen könnte in jenen Prozess, den schon Grillparzer messerscharf beobachtet hat: "von Humanität durch Nationalität zur Bestialität." Eine Autorin, die schon auf dem Majdan hervorgetreten ist, erzählt uns, sie habe beobachtet, wie aus einer großen Bibliothek in Galizien die Bücher russischer Autorinnen und Autoren entfernt worden sind; sie hat dagegen protestiert ... und wird dort seither von vielen Kolleginnen und Kollegen geschnitten.

Überall in der Stadt

Diskussionen über "Kultur und Politik" dominieren, Gespräche über die zeitgenössische Lyrik (über ihre Verfahrensweisen, die poetologischen Konzepte der Gegenwart, den "Sinn für die Ellipse") finden dagegen, anders als man erwarten könnte, nicht in der Öffentlichkeit statt, allenfalls in kleinen Gruppen, in den Cafés überall in der Stadt. Aber: Dichterlesungen, Theater-Performances, Konzerte, Buchvorstellungen sind an zahllosen Veranstaltungsorten angesetzt, im Palast der Kultur, im Haus der Jugend, im Paul-Celan-Literaturzentrum, auf dem Jüdischen Friedhof an der Zelena-Straße und sogar mitten in der ehemaligen Herrengasse (die Straßenschilder existieren noch immer), der Flaniermeile der Stadt, heute benannt nach der ukrainischen Nationaldichterin Olga Kobylanska. Oft reicht der vorgesehene Platz nicht aus; das vorwiegend junge Publikum strömt zu den Veranstaltungen, und das keineswegs nur, wenn die ukrainischen Autoren das Wort ergreifen. Wo immer Serhij Zhadan auf dem Programm steht, einer der bekanntesten Aktivisten der Orangen Revolution, muss man sich lange vor dem Beginn der Veranstaltung eine Sitzgelegenheit reservieren, will man nicht stehen. Der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist frei.

Schriftsteller aus der Ukraine geben den Ton an: Jurij Andruchowytsch, Kateryna Babkina, Marianna Kiyanovska und Igor Pomerantsev. Aber auch die Gäste aus anderen Ländern werden mit offenen Armen empfangen; aus den deutschsprachigen Ländern insbesondere Friedrich Achleitner, Franz Josef Czernin, Michael Krüger, Andreas Neeser und Dragica Rajci. Ihre Texte werden in deutscher Sprache präsentiert, gleichzeitig aber auch, als wäre dies das Selbstverständlichste von der Welt, auf Ukrainisch und Russisch. Michael Krüger ist darüber einmal doch kurz irritiert; er fragt, im heillos überfüllten ehemaligen jüdischen Nationalhaus am Teatraljna Platz, ob denn alle in diesem Haus Russisch verstünden? Petro Rychlo, der Literaturwissenschaftler und Übersetzer (der in diesen Tagen das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst erhalten hat), antwortet prompt: Wir verstehen alle Russisch, aber wir verstehen überhaupt nicht mehr Russland. Lang anhaltender Applaus. - Applaus auch in der Herrengasse, wo das Orchester der jüdischen Musik unter der Leitung von Lev Feldmann aufspielt. Mark Belorusets, der u. a. Trakl, Celan, Hertha Kräftner ins Russische übersetzt hat, schaut in die Runde, mustert das Publikum, das längst die ganze Straße blockiert, und flüstert (selbst noch stolz auf seine jüdische Herkunft):"Juden gibt's in Czernowitz nicht mehr."

Politische Poesie

Das Lyrikfest strahlt weit über Czernowitz hinaus: Die Festival-Karawane hält auch in Kiew, Kharkiv, Lemberg und zieht schließlich weiter nach Polen, Tschechien, Deutschland. Kurz hat sie auch in Ivano-Frankivsk Halt gemacht, um vor allem Zhadan eine Bühne zu bieten: eine Plattform für eine politische Poesie, die laut und unmissverständlich zum Ausdruck bringt, was aus der Sicht des Dichters, den prorussische Kräfte erst im vergangenen Frühjahr krankenhausreif geschlagen haben, heute zu sagen ist.

Spät abends hingegen ist, ohne jede Vorankündigung, mitten in der Fußgängerzone der Stadt, noch einmal eine andere, eine Poesie zu hören, die "zum Verstummen" tendiert. Ein junger Straßensänger tritt auf, ein Student wohl, der, ganz anders als Zhadan, statt Putin und Janukowytsch direkt anzugreifen, leise auf seiner Bandura spielt und dazu alte ukrainische Weisen summt. In wenigen Augenblicken ist er von Dutzenden Menschen umringt, wer noch unterwegs ist, bleibt stehen; viele suchen nach Münzen, viele haben Tränen in den Augen.

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