Der letzte Zug fuhr 1918

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Österreichische Vergangenheit in der West-Ukraine und gegenwärtige Kooperationen ohne Nostalgie. Reiseeindrücke von Sylvia M. Patsch

Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man lachen. Während in Wien eine internationale Konferenz über das "Ende der Habsburger-Nostalgie" stattfindet, feiert diese Nostalgie in der Westukraine fröhliche Urständ: in Lemberg, Stanislau, Kolomea, also im einstigen Galizien, und ebenso in Czernowitz, der Hauptstadt des alten Kronlandes Bukowina. Wann fährt der nächste direkte Zug nach Wien, fragt sich der Besucher der prachtvollen alt-österreichischen Bahnhöfe von Lemberg und Czernowitz. Liebevoll und detailgetreu renoviert, lassen diese Zeugnisse der Erschließung des Ostens der Monarchie heute erstarren: Der letzte direkte Zug von Czernowitz nach Wien fuhr 1918.

Die Spuren Österreichs

Eigentlich müsste die EU die Westukraine in ihre Gemeinschaft aufnehmen. Das wird aber nicht geschehen, denn der zweitgrößte Staat Europas mit 52 Millionen Einwohnern wird vom Osten her, aus Kiev, regiert, und der Druck aus Moskau nimmt ständig zu. Umso dankbarer reagieren die Menschen in der Westukraine auf das Interesse aus Österreich. Dieses wird freilich angefacht von der Erinnerung an die östlichsten kulturellen Vorposten des Vielvölkerstaates. Große Menschen wurden dort geboren: der Schöpfer einer rückwärts gewandten Utopie, Joseph Roth, der Biochemiker und Schriftsteller Erwin Chargaff, der Romancier Leopold von Sacher-Masoch; die Dichter Rose Ausländer und Paul Celan, Manès Sperber und Alfred Margul-Sperber, Karl E. Franzos...

Aus österreichischer Zeit stammende Gebäude prägen das Stadtbild von Lemberg, Czernowitz, Stanislau. Lemberg ist in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen worden. Czernowitz, über das im Ersten und Zweiten Weltkrieg mehrfach die Front hinwegging, blieb unzerstört. Doch auf der "alten" Bühne spielen heute neue Darsteller. Die alten sind verschwunden: umgebracht die Juden, vertrieben die Deutschen; die deutsche Sprache, einst einigendes Band, ist heute eine Fremdsprache.

Hier hat das Österreichisch-Ukrainische Kooperationsbüro in Lemberg eine Chance erkannt. Diese Außenstelle der Österreichischen Botschaft, unter der Leitung des zwar pensionierten, doch überaus vitalen Sektionschefs Bernhard Stillfried, vollbringt mit minimaler Bürokratie Wunder des Brückenbaus. Junge Österreicher unterrichten an ukrainischen Gymnasien Deutsch. Zwischen Österreich und ukrainischen Schulen gibt es Schulpartnerschaften und regen Schüleraustausch. 26 österreichische Universitäts- und Forschungsinstitute schicken Wissenschaftler in die Ukraine und laden Kollegen von dort ein. Die Menschen der Westukraine müssten ohne das Kooperationsbüro zwei Tagesreisen nach Kiev unternehmen, um ein Visum für Österreich zu erhalten. Mit Hilfe des Büros, das sich im ehemaligen Landtagsgebäude Galiziens in Lemberg (der heutigen Universität) befindet, kann ihnen die Reise in den "Fernen Osten" ihres Landes erspart werden.

Einstige Größen unbekannt

Nach dem "Bevölkerungsaustausch" des Zweiten Weltkriegs in Galizien und der Bukowina sind den heutigen Bewohnern die großen Namen des Landes unbekannt. Das Kooperationsbüro gibt Übersetzungsaufträge, damit die aus dem Osten Zugeströmten in der heutigen Landessprache, Ukrainisch, etwa "Die Wasserträger Gottes" von Manès Sperber oder Paul Celans und Rose Ausländers Gedichte lesen können. Viele Geburtshäuser von Dichtern und Forschern haben Gedenktafeln erhalten, wie jüngst Erwin Chargaff in Cernowitz. Der multikulturelle Reichtum ist verschwunden. So soll wenigstens die Erinnerung daran weiterleben.

Zerstörtes Land

Die Ukraine, einst Kornkammer der Monarchie, ist nach 70 Jahren gnadenloser kommunistischer Ausbeutung ein erschöpftes Land: die Böden verdorben; die Landschaft verunstaltet von vor sich hin rostenden Industrieanlagen, verlassenen Kolchosen; die Dorfgrenzen vergessen. Um neue Verwaltungsstrukturen aufzubauen, greift man auf den Kataster aus Alt-Österreich zurück. Eine Million grundbücherlicher Eintragungen liegen schön geordnet im unterirdischen Archiv des Bernhardiner-Klosters in Lemberg: österreichische Beamten-Gewissenhaftigkeit von 1784 bis 1918.

Die Wasserleitungen in Lemberg und Czernowitz stammen noch aus Monarchie-Zeiten - bei verdoppelter Bevölkerungszahl ein Problem, ebenso wie die hervorragende alt-österreichische Bausubstanz. Das Czernowitzer Theater aus der österreichischen "Theaterfabrik" Helmer und Fellner strahlt in neuem Glanz, wenn auch dem Schiller-Denkmal vor der Haupteingang der Kopf zerschossen wurde... Im Frühling 2003 reisten vier österreichische Kunsthandwerker nach Czernowitz, um eine Woche lang Restaurationskunst zu demonstrieren. Unter dicken Lackschichten legten sie am Eingangstor des Kunstmuseums die goldene Biene der Ersten Österreichischen Sparkasse frei, die einst in dem Haus untergebracht war. In Zusammenarbeit mit Wien hat die Lemberger Stadtverwaltung begonnen, die grüne Lunge Lembergs, den Kaiserwald (ein Geschenk Kaiser Josefs II.), zu restaurieren.

Die Damen und Herren Universitätsprofessoren, die über das Ende der Habsburger-Nostalgie dozieren, liegen falsch: Was sich in der Westukraine ereignet, ist mehr als Nostalgie. Es ist Liebe zu Österreich. In der Nobelstraße von Czernowitz, der alten Herrengasse, gab es einmal das Café Habsburg, das nicht mit der Qualität von Torten warb, sondern mit 256 internationalen Zeitungen. Die Stadt Wien hat jüngst die Besitzerin des "Wiener Cafés" aus Czernowitz eingeladen, in Wien zu lernen, wie man den berühmten Apfelstrudel zubereitet: Das Café ist inzwischen zu einem kulinarischen Rettungshafen geworden in einem Land, in dem Dienstleistung ein Fremdwort ist, während ein anderes Wort Allgegenwart beansprucht: Korruption.

Hoffnung auf die Jugend

Der Sauerteig der einst so vielfältigen und sprachenreichen Gesellschaft ist vernichtet: Die Juden. In Lembergs herrlicher Altstadt gähnen riesige Baulücken. Die Deutschen ließen von den Synagogen keinen Stein auf dem anderen. Die größte Synagoge von Czernowitz ist heute eine Spielautomaten-Höhle. Und in Brody, der früheren Grenzstadt zum Zarenreich, fressen Gänse das Gras, das in der Ruine der Hauptsynagoge wuchert. Aber das Jüdische Museum in Hohenems hat ein großes Buch herausgebracht über den unzerstörten jüdischen Friedhof in Siret (heute Rumänien).

Gibt es Hoffnung für die Ukraine? Für ein Land, in dem noch immer Tausende an den Folgen des Supergaus von Tschernobyl leiden? Hoffnung für Menschen, die für einen Krankenhaus-Aufenthalt die Bettwäsche und das Essen selbst mitbringen müssen?

Ja: Die Jungen, die Unzerstörten. Das hat auch das Schulamt der Erzdiözese Wien erkannt. Es unterstützt massiv das griechisch-katholische Lyzeum von Lemberg. Kardinal Christoph Schönborn, der im September zum erstenmal in Lemberg predigte, sagte bei seinem Besuch in der Schule den strahlenden Gymnasiastinnen und Gymnasiasten: "Wir haben eine gemeinsame Geschichte und einen gemeinsamen Glauben. Gott segnet, was wir teilen."

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