Statische Gedichte aus Lemberg

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Geboren wurde Debora Vogel 1900 im österreichischen Lemberg, das nach dem Ersten Weltkrieg polnisch wurde -auf Geheiß der Entente und durch den eigenen Sieg über die ukrainischen Nationalisten. 1939 ging Galizien mit seiner Hauptstadt an die UdSSR: Die sprachbegabte Debora Vogel begann bereits, das Ukrainische zu lernen, aber dann überfiel Nazideutschland die Sowjetunion. In Lemberg hatten sich ca. 260.000 Juden angesammelt, viele waren aus Polen vor den deutschen Truppen geflohen. Die sowjetischen Behörden versuchten, die Bewohner Lembergs, des alten ruthenischen Lwows, ins Hinterland zu evakuieren, aber alles ging zu schnell ...

Die Deutschen fanden in Lemberg über 100.000 Juden vor; viele wollten nicht in den Osten, dachten: "Deutschland, eine europäische Kulturnation ..."- ein Fehler, den so viele europäische Juden mit dem Leben bezahlen mussten.

Zunächst führten die ukrainischen Nationalisten die Judenvernichtung in Lemberg durch, dann, nachdem Galizien dem "Generalgouvernement" zugeschlagen worden war, übernahmen die Deutschen selbst die "Verwaltung" des Lemberger Ghettos. Bei einer der Säuberungen im Februar 1942 wurden Debora Vogel, ihr Mann und ihr Sohn erschossen.

Bei der Rückkehr der Roten Armee nach Lemberg krochen buchstäblich ein paar Dutzend Juden aus Schlupfwinkeln wie der Kanalisation heraus. Viele nahmen das Recht wahr, das den Staatsbürgern Vorkriegspolens gewährt wurde und optierten für Polen, blieben aber nicht da, sie reisten weiter.

Erstaunliche Blüte und jähes Ende

Das Jiddische als Literatursprache hat unzählige Varianten. Die Unterschiede bestehen im Prozentsatz der slawischen und hebräischen Wörter. Die Sprache Debora Vogels weist ganz wenig Slawisches auf (duschne für schwül beispielweise) und etwas mehr - aber nicht viele -hebräische Wörter. Das destilliert ihre Sprache, macht sie etwas monoton. Es ist eher der Blick einer bildenden Künstlerin als das Gehör einer Dichterin. Debora Vogel sieht nicht die Bilder und Szenen des realen Lebens, sondern Bilder, die nach ihnen gezeichnet oder gemalt sind. Davon kommen die für sie so charakteristischen "reinen Farben" - gelb, rot, braun, blau ... Diese ihre Eigenschaft, die Welt als unbewegliche Bilder zu sehen, veranlasste sie zum Konzept des Statischen in der Gegenwartsliteratur.

Das ist eine traurige Lektüre -ein Mensch lebt, liest, schreibt, schmiedet Pläne, denkt über die Kunst nach (meistens über die modernistische, meistens über die französische), während sich sichtbar über seinem Kopf die Wolke des Unglücks verdichtet. Sein Schicksal ist besiegelt, er weiß davon nichts -aber wir wissen es.

Die jiddische Sprache als Sprache der Literatur erlebte im 20. Jahrhundert eine erstaunliche Blüte. Sie brachte große Dichter, wie Itzik Manger oder Mojsche Kulbak, hervor und erlebte in den 1940er-Jahren ein jähes Ende -zusammen mit dem osteuropäischen Judentum. Jeder neue Name, der dem Nichts entrissen wird, ist ein bitteres Glück, eine späte, sehr späte Gerechtigkeit. Gut, dass wir Debora Vogel jetzt kennen.

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