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Rätselvolles Fenster Kiew

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Schauplatz Kiew, großer Saal der Akademie der Wissenschaften, Symposion Begegnung Österreich und Ukraine auf dem Gebiet der Literatur. Etwa hundertzwanzig Teilnehmer, aus der Ukraine, aus Österreich, aus Polen, aus Bulgarien. Viele aus Lemberg und Czernowitz, dem einstigen Galizien, der Bukowina. Aufregende Vorträge und Diskussionen über Joseph Both, über Taras Schew-tschenko, über Karl Emil Franzos und Iwan Franke, über Leopold Sacher-Masoch und Bainer Maria Rilke, der Kiew und dem Höhlen-kloster tiefe Erlebnisse verdankte.

Das Land war noch weit strenger vom Westen abgeschlossen als Bußland, die Intellektuellen hatten es noch schwerer als in Moskau, wo manches schon früher in Bichtung Liberalität in Bewegung kam. Die Versorgung der Nationalbibliothek von Kiew mit Gegenwartsliteratur war katastrophal schlecht. Nach meinem Vortrag über den im galizischen Städtel Zablotow geborenen Manes Sperber, der dort seine Kindheit verbracht und bewegend darüber geschrieben hat (unter anderem in „Die Wasserträger Gottes”), stellte sich heraus, daß ich über einen hier völlig unbekannten Autor gesprochen hatte.

Es ist eine eigene Welt der Abgeschlossenheit mit völlig unzureichender Information über den Westen, zum Teil sogar über Komplexe der eigenen Vergangenheit, zudem ein Land von für uns unbegreifbarer wirtschaftlicher Armut - und dies alles neunzig Flugminuten von Wien. Seit einem Jahr gibt es dort eine Österreich-Bibliothek, die wie eine geistige Quelle genützt wird.

Mitten in der Diskussion trat ein stämmiger Ukrainer nach vorn und redete improvisiert fünfzehn Minuten über Rudolf Kassner. „Daß wir hier diesen Mann nicht kennen konnten, ist klar”, meinte er temperamentvoll, „aber warum, wie ich inzwischen erfahren habe, weiß auch die westliche Welt nicht, daß er einer der bedeutendsten Philosothen unseres Jahrhunderts war?” Wir werden der Ikraine noch manche interessante Impulse zu verdanken haben.

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