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Liebeserklärung an Mähren

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Der Prestelverlag in München kann auf seine Produktion wirklich stolz sein. Seine Landschaftsbücher stellen eine einmalige verlegerische Leistung dar. Verläßliche, lebendige Texte, liebevoll ausgewählte Abbildungen und eine aparte Aufmachung haben diese Bände längst zu einer Art Markenartikel gemacht. Dazu kommt noch eines: trotz bester Aufmachung, wozu auch regelmäßig viele Bilder, teils sogar farbig, gehören, ist der Preis der meisten Bände relativ niedrig. Sie kosten rund um die DM 20.—.

Viele Bände beschäftigen sich mit Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich, 'Italien, Spanien usw. Erfreulicherweise auch mit den böhmischen Ländern. Baronin Johanna Herzogenberg gab einen Band über Prag heraus und Lilian Schacherl ein Buch über Böhmen. Nun

Häuser in Zlabings legt letztere Autorin auch einen Band über Mähren vor und nennt dieses Buch mit Recht ein Werk über ein Land der friedlichen Widersprüche.

Geleitet von der Autorin, kann der Leser eine Wanderung durch die Schönheiten dieses Landes unternehmen. Kann seine Städte, seine Schlösser, seine Wälder, seine Hügel, seine Museen bewundern. Kann vor allen Dingen auch erkennen, welche kulturelle Großmacht dieses kleine Land gewesen ist und welches politische Vorbild es durch lange Zeit l .jeben hat.

Mähren war bewohnt von Tschechen, Deutschen, Juden und Slowaken. Aber während sich in den anderen Ländern der Monarchie die Völker das Leben schwer machten, lebten sie in Mähren friedlich nebeneinander. 1905 schuf Mähren im sogenannten „Mährischen Ausgleich” das Paradebeispiel, in welcher Form die Völker der Monarchie friedlich neben- und miteinander leben konnten. Das Beispiel machte Schule, denn 1C10 wurde ein ähnlicher Ausgleich in der Bukowina abgeschlossen und 1914 in Galizien zwischen Polen und Ruthenen. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges trennte sogar Tschechen und Deutsche in Böhmen nur eine hauchdünne Wand. Auf mährischen Boden, vielleicht beeinflußt von dieser Landschaft, einigten sich 1848 ein einziges Mal sämtliche Völker der Monarchie zu einer gemeinsamen Verfassung. Auch auf religiösem Gebiet war Mähren von äußerster Toleranz. Während die Hussiten in Böhmen eine äußerst streitbare Religion verkörperten, bildeten sie in Mähren unter dem Titel „Mährische Brüder” die vielleicht pazifistischeste Konfession, die es je gab. Ihr Bischof Comenius, der nach Holland emigrieren mußte, wurde weltberühmt. Aber auch sonst war Mähren für das Christentum von großer Bedeutung. Es ist die Geburtsstätte des Apostels von Wien, des heiligen Clemens Maria Hofbauer. Lange vor dem Zweiten Vaticanum kämpfte der Erzbischof von Olmütz, Stojan, für die Union mit den Orthodoxen und es ist sicherlich nicht von ungefähr, daß gerade Mähren die Wirkungsstätte der Heiligen Cyrill und Method war, jener Mönche des östlichen Christentums, die nicht gegen Rom sondern mit Rom arbeiteten.

In diesem Land der friedlichen Gegensätze wuchsen als Beweis, daß nicht der Krieg, sondern der Friede der Vater aller Dinge ist, die Genies und großen Köpfe nur so empor. Der große tschechische Staatsmann Pa-lacky kam aus Mähren und ebenso der Gründer der ersten tschechoslowakischen Republik, Thomas Garri-gue Masaryk. (Im Gegensatz zu dem aus Böhmen stammenden Benes galt der Mährer Masaryk als ein humaner und toleranter Staatsmann.) Aus Mähren gebürtig sind die beiden österreichischen Bundespräsidenten Dr. Renner und Dr. Schärf, wobei

Hier pflügte Joseph II. ersterer wegen seiner toleranten Haltung den Namen „der Packler” trug, wohingegen der aus Nordböhmen stammende Dr. Otto Bauer als „das talentierte Unglück der Partei” bezeichnet wurde. (Dr. Otto Bauer war ein Jude aus Nordböhmen. Als Atheist besaß er dennoch eine Art säkularisiertes jüdisches Denken. Allerdings waren nicht mehr die Juden für ihn das auserwählte Volk, sondern die Proletarier, die er in einem Ghetto, genannt „rote Gemeinde Wien” solange einsperren wollte, bis sie ins Gelobte Land einziehen konnten. Als Gelobtes Land konnte für diesen sudetendeutschen Juden natürlich nur Großdeutschland gelten.) Aus Mähren stammte auch der letzte k. k. Sozialdemokrat Dr. Smeral, der noch im Herbst 1918 die Monarchie zu retten versuchte und mit herben Worten die Tätigkeit Masaryks verurteilte, von der er behauptete, sie werde den Tschechen einen neuen „Weißen Berg” bereiten. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie wurde er, gleichsam aus Verzweiflung, da er sich ein Leben in einem kleinen Staat nicht vorstellen konnte, übernationaler Kommunist. Ähnlich wie viele schwarzgelbe Österreicher nach 1918 Anschlußfreunde wurden. Aus dem gleichen mährischen Städtchen Trebitsch, aus dem Smeral kam, stammte der letzte Führer der alttschechischen Partei, Dr. Albin Braf, der Schwiegersohn Dr. Riegers, und ebenso stammt teilweise aus Trebitsch der heutige Bundeskanzler. Aus Mähren kam aber auch der letzte k. k. Finanzminister und berühmte Historiker Dr. Josef Redlich.

Aber nicht nur Staatsmänner und Theologen brachte das Land hervor, sondern auch Dichter und Wissenschaftler. Stefan Zweig, die Ebner-Eschenbach, Rudolf Kastner, Richard von Schaukai, Robert von Musil, sein Vetter Alois Musil, der Komponist Leos Janäöek stammen ebenso aus diesem Land der March wie jener Mann, der Weltberühmtheit erlangte: Sigmund Freud und sein nicht minder bekannter Landsmann Adolf Loos.

In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg ergänzte sich Wien zum größten Teil aus dem Zuzug von Mähren. Ähnlich wie Berlin vor 1914 zu einem Drittel aus Schlesiern bestand, so daß diese zwei böhmischen Kronländer langsam zwei Hauptstädte zu erobern begannen. Wäre der Erste Weltkrieg nicht ausgebrochen, wäre Wien endgültig „vermährert”. Und wäre endgültig zur größten tschechischen Stadt der Welt geworden. (Die Habsburger hätten sich dann einst in Wien zum König eines großmährischen Reiches krönen lassen können.) All diese Gedanken kommen dem Leser bei der Lektüre des entzückenden Buches von Lilian Schacherl über Mähren, an deren Hand er dieses schöne Land durchwandern kann, das so oft ein Leben im Schatten des großen böhmischen Bruders führen mußte und dessen Existenz für Mitteleuropa und für die Welt entscheidend war.

MÄHREN — Land der friedlichen Widersprüche. Von Lilian Schacherl. Prestelverlag, München. 367 Seiten Text, 43 Abbildungen, davon vier farbig. DM 19.80.

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