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Österreichisches in der slawischen Literatur

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Die Beziehungen zwischen der österreichischen Literatur und den Literaturen der anderen, vorwiegend slawischen Völker, die zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehörten, sind im Vergleich zur Erforschung des gemeinsamen politischen Lebens noch nicht gründlich genug aufgeklärt und zählen noch zu den Geheimnissen des geistigen Organismus des Österreichisch- ungarischen Staates. Dabei kann man heute, aus einer schon dreißigjährigen geschichtlichen Perspektive heraus, mit Bestimmtheit behaupten, daß in der damaligen österreichischen Literatur ein Wiederschein der allgemeinen Ideologie des Slawentums und umgekehrt im slawischen Sdirifttum eine deutliche Spur der damaligen österreichischen Literatur festzustellen ist.

Ein typischer Vertreter einer solchen literarischen, gegenseitigen, gedanklichen Wechselwirkung ist Anastasius Grün, Graf Anton Auersperg (1806—18 6), der in der Geschichte der österreichischen Literatur als „der bekannteste Polemiker des Vormärzes“ (E. J. Görlich) bezeichnet wird Durch seine Begeisterung für die österreichische Vergangenheit und seine Vaterlandsliebe, ebenso wie durch sein wohlwollendes Verständnis des slawischen Volkstums, ist er in Österreich zu einer Größe geworden und wurde durch seine Sammlung „Volkslieder aus Krain" nicht nur bei den Slowenen, sondern auch bei den Ukrainern' bekannt.

Seine Begeisterung für die österreichische Vergangenheit und seine Vaterlandsliebe verbanden Anastasius Grün mit einem ukrainischen Dichter, der sein Volk mit seiner Vergangenheit, seine Sprache und seine Ukraine ebenso heiß liebte — mit A'fflbr o 4-i us von Metlynskyj. In der ukrainischen Literatur hat Ambrosius von Metlynskyj (1814—18 0), zuerst Professor an der Universität in Kiew und später an der Universität in Charkow, die ukrainische Vergangenheit besungen, wobei er sich eines Decknamens, Ambrosius M o h y 1 s (mohyla — das Grab) bediente. Die Gedichte Metlynskyjs sind durchwegs melancholisch; er sucht die Rettung für sein Volk bei anderen slawischen Völkern, im mächtigen Slawentum, da seiner Meinung nach seine geliebte ukrainische Sprache „von Tag zu Tag“ mjehr in Vergessenheit gerät und verstummt, so daß ein Tag kommen wird, an dem sie vergessen und verstummt sein wird und nur die Worte dieser Spradie in traurigen Gesängen die Nachkommen erreichen werden.

Und gerade diese Hinwendung zur Vergangenheit, die die Gegenwart retten wird und den Grundstein für die Zukunft legen will, ist das gemeinsame Merkmal Grüns und Metlynskyjs.

Im Jahre 1839 veröffentlicht Metlynskyj- Mohyla „Gedichte, Lieder und noch etwas“ („Dumky i pisni i ta šče deščo"), worin neben eigenen Gedichten auch Übersetzungen aus dem Tschechischen, Slowakischen, Serbischen, Polnischen und Deutschen erscheinen, darunter von österreichischen Dichtern auch je ein Gedicht von Theodor Körner und von Anastasius Grün. Die Übersetzung des Gedichts von Grün „Das Vaterland“ (ins Ukrainische übersetzt als „Es war“) ist mit folgendem Zusatz von Metlynskyj versehen: „Das wurde über

Venedig geschrieben. Venedig stand einst in der Reihe der Staaten und Königreiche an erster Stelle; es beherrschte das Meer und übte seine Herrschaft auch auf das Festland aus. Aber später verlor cs alles und wurde zu einem Nichts.“

Zehn Jahre vorher war das erste dichterische Werk Auerspergs in Buchform uriter dem Titel „Blätter der Liebe“ von Anastasius Grün (Stuttgart, Drude und Verlag von Gebrüder Franeky) erschienen. Im Abschnitt „Erinnerungen an Adria“ (1829) befindet sich das erwähnte, von Metlynskyj übersetzte Gedicht „Das Vaterland“. Metlynskyjs Übersetzung ist eine freie; so zum Beispiel haben wir im Original von Grün 56 Verse und bei Metlynskyj nur 40 Verse. Jedoch hat der Übersetzer den Gedanken des Werks beibehalten und ihn sogar noch sehr dichterisch vereinfacht. Bei Grün lobt jeder einzelne Vertreter seines Volkes seine Heimat: „ein Mann aus Frankreich, vom grünen Rhonestrand, Goldsaaten, Rebenhügel nennt er sein Vaterland", und ein anderer wiederum: „pries als Heimat des Nordens Felsenwall, die Gletscher Skandinaviens, die Seen von Kristall", während die Heimat eines dritten dort liegt: „wo als ew’ger Leuchtturm, Vesuv, der Hohe, glüht“. Bei Metlynskyj sind die Vertreter der einzelnen Nationalitäten nicht angeführt; er gibt in gekürzter Form nur das Lob der Heimat eines jeden, ohne die Nationalität zu nennen, wieder: „Jeder lobte sein Vaterland und kein Land war besser als das seine; er lobte Seen und Bäche und Meere, das Schneegestöber und die leuchtenden Berge, die Steppen, Weiden und Wälder“. Die gleichzeitig aufklingende poetische Stimmung eines Staatenlosen, der seine verlorene Heimat beweint („Ein Mann war's aus Venedig“), ist bei Grün in den wunderbaren Worten ausgedrückt: „mein Vaterland, o Heimat, du bi9t nur Wasser und Stein“, und verliert bei Metlynskyj an Kraft: „du warst die

Königin der Küsten und des Meeres, warum bist du versunken?". In diesem Fall beabsichtigte Grün in seinem Gedicht eine geschichtlich wahre Darstellung der Verzweiflung „des Manns aus Venedig“ zu geben, dessen Vaterland „zu einem Nichts“ wurde, während Metlynskyj in seinem Gedicht meiner Meinung nach den Typ des Venezianers dem des Ukrainers, des Vertreters eines einstmals mächtigen Schwarzmeerstaates, der Ukraine, die Königin der Schwarzmeerküsten und des Schwarzen Meeres war, einander nahebringen wollte.

Die Übersetzung der Gedichte von Theodor Körner (1 91 bis 1813), der, obwohl thematisch zur österreichischen Literatur gehörend — seine Werke hatten gerade in österreichischen und nordungarischen Städten besonderen Erfolg, was schon J. von Farkas aufgezeigt hat —, in Österreich nicht zu Hause war, beziehungsweise Grüns unterscheiden sich sowohl inhaltlich, als auch durch ihren gedanklichen Untergrund weitgehend voneinander.

Während wir bei Grün gerade eines der stark entwickelten gemeinsamen Merkmale finden, das das Schaffen beider Dichter miteinander verbindet und das die Ursache für die Aufnahme Grüns durch Metlynskyj in die ukrainische Literatur war, nämlich die Vaterlandsliebe und der Schmerz um den Verlust des Vaterlands, scheint die Natur in Körners Gedicht „Gute Nacht“ der Antrieb für Metlynskyj gewesen zu sein, dieses Gedicht zu übersetzen und in die ukrainische Literatur aufzunehmen. Metlynskyj, der die ukrainische Natur leidenschaftlich geliebt und selbst ukrainische Volkslieder gesammelt hat, konnte am Gedicht Körners, das einen Abend auf dem Lande, ähnlich einem Abend in der Ukraine, besingt, nicht achtlos vorübergehen.

„Blätter der Liebe“ von Anastasius Grün sind im Jahre 1829 erschienen. Genau zehn Jahre später, 1839, erschien die Sammlung: „Gedichte, Lieder und noch etwas“ von Ambrosius Mohyla. Zehn Jahre waren erforderlich, damit der Vertreter des mächtigen Donaustaates, Österreichs, einen Gesinnungsgenossen im Vertreter des einstmals mächtigen Schwarzmeerstaates, der Ukraine, fand. In ihrem literarischen Schaffen verstanden sich der Sohn eines der berühmtesten Adelsgeschlechter Österreichs aus der Krain und ein kleiner adeliger Gutsbesitzer aus dem Gouvernement von Poltawa in der Ukraine.

Und das Interessanteste in dieser geistigen Verwandtschaft zwischen den beiden Dich- ern ist die Tatsache, daß Grün seinen unmittelbaren Einfluß nicht auf jenen Zweig der ukrainischen Literatur ausübte, der schon im politischen Staatsverband der österreichisch-ungarischen Monarchie wurzelte, das heißt auf die westukrainische Literatur, sondern die Literatur jenes Teils des ukrainischen Volkes beeinflußte, der unter russischer Herrschaft stand, auf die Literatur also, die eine Ausstrahlung des allukrainischen Geistes war.

Diese literarische Verwandtschaft stellt eines der Geheimnisse im geistigen Leben Österreichs und der Ukraine dar, und gerade diese literarische Verwandtschaft ist ein Beweis für die Mittlerrolle der beiden Völker zwischen Abendland und Morgenland.

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