Schätze am Rande Europas

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Notizen von einer Reise durch das Baltikum

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Notizen von einer Reise durch das Baltikum

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Am zweiten Tag ist klar, wer das schwarze Schaf in der Gruppe ist. Frau N. nimmt im Bus eine ganze Sitzreihe für sich in Anspruch, meckert über das Hotelzimmer in Vilnius, kommt ständig zu spät und brüstet sich damit, wieviel sie dem jungen Mann im Schmuckladen vom Preis der Bernsteinkette runtergehandelt hat - sie ist zum An-die-Wand-picken!

Die anderen Reiseteilnehmer sehen das gelassener; sie verdrehen allenfalls kurz die Augen oder ignorieren sie. Das sind offenbar Gruppenreise-Profis. Ich nicht. Für mich ist es die erste derartige Unternehmung. Etwas Skepsis zu Beginn, am Flughafen taxiert man sich noch ein bisschen, aber am zweiten Tag ist alles klar, siehe oben. Man weiß dann auch schon, wen man besonders mag. Die Achtzigjährige zum Beispiel, die so wie ich immer nervös wird, wenn die Gruppe vor lauter Fotografieren und Souvenirkaufen nicht weiterkommt, und die beim Abendessen so lakonisch und unwehleidig aus ihrem Leben, von Naziverfolgung, Krieg und Nachkriegselend erzählen kann.

Die einheimischen Führerinnen sind im Hauptberuf Lehrerinnen, und das merkt man auch. Sie schütten uns mit Jahreszahlen zu und schauen bös, wenn man nicht aufpasst. Agata, die uns die litauische Hauptstadt Vilnius zeigt, ist keine Lehrerin. Sie hat ein Übersetzungsbüro. Manchmal denke ich: Agata könnte uns zu einer Mülldeponie führen, ich bin sicher, ihr würde dazu eine spannende Geschichte einfallen. Natürlich sehen wir keine Mülldeponie, sondern - zum Beispiel - die Peter-und-Paul-Kirche, die uns mit ihrem Figurenreichtum fast erschlägt. Agata zeigt auf eine Statue der Maria Magdalena, die die Züge der schönen Ehefrau des italienischen Bildhauers trägt, und erzählt uns eine Geschichte von Liebe, Eifersucht und Giftmord. Das tote Gestein beginnt zu leben, niemand scharrt ungeduldig mit den Füßen, eine Stunde ist im Nu verflogen.

Vilnius ist katholisch-barock (im Unterschied zu den protestantisch-gotischen Hansestädten Riga und Tallinn), die ganze Stadt wirkt wie frisch gestrichen. Man sagt uns, dass Litauen von den drei baltischen Ländern das rückständigste sei. Als Tourist merkt man nichts davon. Der Supermarkt neben dem Hotel ist üppig bestückt, die Einkaufswagen der Kunden sind voll, allein die Brot-Theke ist 30 Meter lang und bietet eine verwirrende Anzahl von köstlichen Brot- und Kuchensorten. Die Jugend ist fröhlich, selbstbewusst und modisch, im Baltikum gibt es die schönsten Mädchen der Welt, gertenschlank, schmalhüftig, mit endlos langen Beinen, jede Serviererin ein potentielles Model. In den Lokalen und Geschäften wird man zuvorkommend bedient. Die jungen Leute freuen sich, ihre Deutschkenntnisse vorzuführen. Man merkt den Menschen die Genugtuung an, endlich frei und unabhängig zu sein. Agata erzählt von der Zeit der zaristischen Herrschaft im vorigen Jahrhundert, in der es den Litauern verboten gewesen war, ihre Muttersprache zu sprechen und litauische Bücher zu lesen. Man druckte die Bücher im benachbarten Polen; "Bücherträger" schleppten die kostbare Fracht bei Nacht und Nebel in Rucksäcken ins Land. Wer erwischt wurde, bezahlte dafür mit dem Leben.

Der unbekannte "Bücherträger" Im Zentrum der Stadt Kaunas steht die Statue des unbekannten "Bücherträgers". Was für ein Land, in dem man bereit ist, für Sprache und Literatur sein Leben zu geben! Agata erzählt von der sowjetischen Planwirtschaft, die dekretierte, dass Litauen der Maislieferant für die gesamte UdSSR sein sollte? ungeachtet der dafür ungeeigneten Bodenverhältnisse. Die Litauer - katholisch-barocke Schlitzohren - ließen die Moskauer Kontrollore kommen, füllten sie mit Wodka ab und fuhren mit ihnen durchs Land. Rechts und links der Straßen meterhohe Kukuruzstauden, genau drei Meter breit! Dahinter baute man an, was man wollte und brauchte ... Agata und ihre Studentenfreunde kauften in den Apotheken Baldrian und gossen ihn nachts heimlich auf den Sockel der Lenin-Statue. Über das orgiastische Konzert, das die Vilniuser Katzen anschließend zu Lenins Füßen veranstalteten, kann Agata noch heute Tränen lachen.

Die Abneigung gegen die ehemaligen Machthaber ist immer noch da, vor allem im lettischen Riga, wo die Russen auch heute noch die Bevölkerungsmehrheit bilden, isoliert in ihren Plattenbauvierteln am Rande der Stadt, aber mit einer von der Mafia gesteuerten Parallelwirtschaft. Das noble Jugendstil-Cafe "Nostalgija" am Aspazijas-Boulevard sei in russischer Hand, sagt man uns. Wir gehen rein; der als Empfangschef verkleidete Gorilla schenkt uns einen Blick wie ein MP-Geschoss und wir machen auf dem Absatz kehrt.

Liegt es am Regenwetter, an der Düsternis unseres Gründerzeit-Hotelkastens, oder an der Leidensmiene unserer örtlichen Führerin Lena, dass Riga auf mich ein wenig abweisend wirkt? Dabei ist Riga überwältigend, sowohl in der vorbildlich renovierten mittelalterlichen Altstadt als auch in der "Neustadt", wo sich ein prunkvolles Jugendstilhaus an das andere reiht. Man würde eine Woche brauchen, um alle Schätze Rigas kennenzulernen. "Der jetzige Finanzminister war mal mein Schüler". erzählt Lena. "Schon damals hat er von Mathematik keine Ahnung gehabt". Wir hören von Armut und Arbeitslosigkeit und erfahren, was Lena als Lehrerin verdient. Wir fühlen uns schuldig, weil wir in einem wohlhabenden Land leben. Unser Liebling Frau N. checkt die Preise an einem Gemüsestand. "Mein Gott, ist das billig!" ruft sie aus, in Hörweite von Lena. Wir könnten die Dame erwürgen ...

Wieder ein Grenzübergang, diesmal von Lettland nach Estland, wieder eine neue Währung und eine andere Sprache. Der litauischer Busfahrer, der seit Vilnius mit uns unterwegs ist, spricht mit den lettischen und estnischen Führerinnen russisch, denn sonst würde man einander nicht verstehen. Die Sprache der Unterdrücker braucht man also noch. Estland ist EU-Beitrittskandidat, die Preise haben beinahe unser Niveau, man sieht keine Bettler. Das nahe Finnland ist der große Investor und Wohltäter. "Unsere Sprache ist dem Finnischen sehr ähnlich", sagt Katarina, "wir verständigen uns problemlos, wenn es um Geschäfte geht. Aber wenn sich die finnischen Touristen hier aufspielen wollen, dann verstehen wir kein Wort ..."

Während wir in Tallinn, der Hauptstadt Estlands, vom Domberg mit seinen Adelspalästen, Kirchen und Aussichtsterrassen in die malerische Altstadt hinunterfahren und anschließend die Stadtmauer umrunden, die alle paar hundert Meter von einem wuchtigen Turm gekrönt wird, legt Katarina eine Musikkassette ein. Wir hören Volkslieder von beeindruckender Schönheit und Monumentalität. Singen ist hier ein Ausdruck des Nationalgefühls. Mit ihren Sängerfesten haben die Balten die sowjetischen Machthaber buchstäblich aus dem Land hinausgesungen. Sie haben die "singende Revolution" veranstaltet. Am Rande von Tallinn steht ein riesiges Stadion für den einzigen Zweck, hier zu Zehntausenden gemeinsam zu singen. Wo gibt es das sonst noch?! Lieder und Bücher als Überlebensmittel gegen Unterdrückung - man muss diese Länder und ihre Menschen einfach bewundern und lieben!

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