Lenin in kurzen Hosen

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Ein paar Dutzend Kilometer von der litauischen Hauptstadt Vilnius entfernt befindet sich der geographische Mittelpunkt Europas. Mit "gutem Benehmen für Europa" rückt das Land jetzt auch politisch vom Rand in die Mitte.

Hochsommerliche Temperaturen in Litauen. Da wundert es nicht, wenn Kindermund vor einer Lenin-Statue in einem Freiluftmuseum im Süden des Landes fragt, warum Väterchen Wladimir Iljitsch keine kurzen Hosen trägt. Noch dazu wo die Bronze-Figur doch von einem Kurort an der Ostsee hier her ins Dreiländereck zwischen Litauen, Polen und Weißrussland gebracht worden war. Die Museumsführerin kann über soviel Unverstand der litauischen Jugend nur den Kopf schütteln. Sie fühlt sich bestätigt, wie wichtig es doch ist, dass ihr Chef rund 80 sowjetische Denkmäler aus ganz Litauen zusammen getragen und hier im Wald von Grutas zu einem "sowjetischen Skulpturenpark" gruppiert hat.

"Malinauskas", raunen die Gäste im zum Park gehörigen Sowjet-Restaurant, stecken die Köpfe zusammen und schielen zum breitschultrigen 60-Jährigen hinüber, der mit prüfendem Blick durch das Lokal stapft. Der Name steht in Litauen für Erfolg. Früher Chef einer landwirtschaftlichen Kolchose gehört Viliumas Malinauskas heute zu den erfolgreichsten Unternehmern des Landes. "König der Pilze" wird er genannt, 90 Prozent seiner Waldprodukte gehen in allen Variationen in den Export. Und mit seiner "Stalin World", die "den Charme von Disneyland mit dem Grauen eines sowjetischen Gulags kombiniert" (siehe Interview), zeigt Malinauskas seinen Landsleuten, dass man sogar aus den dunkelsten Momenten der eigenen Geschichte ein Geschäft machen kann.

Fröhliche sowjetische Schlagermusik tönt aus den Lautsprechern des Skulpturenparks. Das Areal ist von Stacheldraht umgeben. Ein Birkenwald soll an Sibirien denken lassen, ein Viehwaggon an die Deportationen und die Wachtürme an den Gulag. "Einen schönen Ausflug kann man in Grutas-Park erleben," meint Jurga Tapiniené vom Europakommitee in Vilnius. Und wie steht es angesichts der tonnenschweren Zeugen einer untergegangenen Epoche mit Vergangenheitsbewältigung und Geschichtsaufarbeitung? Tapiniené lächelt, die Litauer sind derzeit mit der Bewältigung ihrer Gegenwart ausreichend genug beschäftigt.

Talsohle wird tiefer

Seit der Unabhängigkeit wird von allen Regierungen der Slogan vom "guten Benehmen für Europa" propagiert. Und gutes Benehmen heißt, sagt Litauens führender Religionswissenschafter Gintaras BeresnevicÇius: "Alle müssen arbeiten und leiden, damit die Wirtschaft endlich in Schwung kommt und Litauen sich aus der Talsohle herausarbeitet. Die Talsohle wird in der Tat immer tiefer, aber diejenigen, die gemeinsam für Litauen gestritten haben, verfügen immer noch über eine gewisse Selbstdisziplin und Motivation." Auswanderung sei ein "Druckablassventil", meint BeresnevicÇius: "In den letzten Jahren haben an die zehn Prozent der litauischen Bevölkerung dem Land den Rücken gekehrt, in der Regel die aktivsten und leistungsfähigsten Kräfte."

Die Emigration ist ein Problem, räumt auch der Parlamentarier Rimvydas VasÇtakas ein. Doch "die meisten kehren zurück", ist der liberale Politiker überzeugt. "Mit neuem Wissen, reicher Erfahrung und vielen guten Ideen für ihre Heimat." Mehr Sorge macht ihm die Abwanderung aus den ländlichen Regionen. Enttäuscht erzählt er von gescheiterten Firmengründungen, an denen das grassierende Alkholproblem vieler Litauer auf dem Land einen wesentlichen Anteil habe. Als oppositioneller Liberaler hat er an der Politik der Regierungskoalition aus Sozialdemokraten und Sozialliberalen viel auszusetzen, und er "würde alles anders machen". Im Vergleich zum Nachbarn Weißrussland oder die Ukraine ist VasÇtakas jedoch froh, dass "es hier viel besser ist".

Viel besser als andere Sowjetrepubliken waren die Litauer in den Zeiten des Kommunismus schon - und zwar immer dann, wenn sie in kurzen Hosen zum Vergleichskampf angetreten sind. Basketball ist Nationalsport und Nationalstolz der dreieinhalb Millionen Litauer zugleich. Ihr Basketballteam war im Kampf gegen russische Teams die sportliche Vorhut der politischen Unabhängigkeitsbewegung. Heute spielen die besten litauischen Basketballer in der höchsten US-Liga.

Superlative flimmern

"Außer dem Basketball gibt es noch die ehrwürdige Geschichte des litauischen Volkes und seine reiche Kultur", verlängert der Publizist Vaidas Seferis im litauischen Essayband "Fortsetzung folgt" die Liste der Dinge, auf die seine Landsleute stolz sind. Und kritisiert diese Suche nach Superlativen bei den Beitrittsländern: "Ihre Sprachen sind die ältesten Sprachen Europas, ihr Basketball (Eishockey, Fußball...) ist Weltspitze, die Wirtschaft entwickelt sich schneller als die der Nachbarn und die kulturellen Schätze sind unerschöpflich. Die Superlative flimmern den Kommissaren für die EU-Erweiterung nur so vor den Augen."

Und konnten im Falle Litauens die EU-Beauftragten überzeugen. Über sechs Prozent Wirtschaftswachstum im letzten Jahr, heuer soll die neun Prozent Marke überschritten werden. Von allen zehn Beitrittsländern hat die Europäische Kommission im Mai allein Litauen gemeinsam mit Slowenien bescheinigt, dass es seinen Reformkurs ohne Beanstandungen umsetzt. Gutes Benehmen für Europa? "Es wird uns etwas abverlangt und das ist voll akzeptabel", rechtfertigt Staatspräsident Rolandas Paksas die Anforderungen.

Der frühere Ministerpräsident des Landes war ein berüchtigter EU-Skeptiker und konnte mit der einen oder anderen Schimpftirade gegen Brüssel die eine oder andere Proteststimme gewinnen. Doch wie viele andere EU-Skeptiker machte auch Paksas das europäische Parkett zum Leisetreter. Jetzt sitzt er unter den Bildern seiner Vorgänger im Präsidentenpalast und wickelt österreichische Journalisten mit Komplimenten über ihre "wunderschöne Heimat" um den Finger. Es wäre "kein Wunder", beantwortet er die Frage nach der Zukunft der Union, wenn in zehn, fünfzehn Jahren noch weitere frühere Sowjetrepubliken der EU angehören. Diese Meinung teilt der Staatspräsident mit all den anderen befragten Politikern im Land. Die reden ebenfalls gern von Wundern, vor allem wenn es um den EU-Beitritt ihres Landes geht - und warum soll dieses Wunder nicht weitergehen?

Drei Buben hingegen, die im Skulpturenpark vor einem tonnenschweren Sowjet-Denkmal sitzen, halten von Wundern wenig. Ihr Interesse gehört in dem Moment weder EU-Verheißungen noch vom Sockel gestoßenen kommunistischen Helden, sondern dem Eis in ihren Händen. Und vielleicht wundern sie sich, dass nicht nur der alte Lenin, sondern auch die ausländischen Besucher bei dieser Hitze keine kurzen Hosen anhaben.

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