Im Vorhof Europas

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Über Kaliningrad und Litauen.

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Über Kaliningrad und Litauen.

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"Es ist zu spüren, dass die hiesigen Menschen begonnen haben, eine Zugehörigkeit zu Europa zu empfinden: sie sind von ihm nicht mehr hermetisch abgeriegelt, wie es Jahrzehnte lang der Fall gewesen war. Es drängt sie dorthin."Tomas Venclova

Für mich als Litauer ist das Kaliningrader Gebiet nicht einfach ein Nachbarland, sondern auch ein schwieriger psychologischer Komplex, dem Nostalgie und Entfremdung, Schmerz und Beunruhigung beigemischt sind. Viele Litauer empfinden ähnlich. Leider wird mit jedem Jahr offensichtlicher, dass dieses Land zur Anomalie geworden ist. Im postsowjetischen Raum wirkt es wie ein Reservat des ehemaligen sowjetischen Systems.

Ich bin oft in meiner Jugend nach Kaliningrad gekommen: die tote Stadt, in der der Mensch gleichsam mit dem Raum als solchem - feindlich, bedrückend, unbeweglich - kommuniziert, erschreckte mich und zog mich zugleich an. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich wieder angefangen, die Grenze zum Kaliningrader Gebiet zu überschreiten - mal von Polen aus, mal von Litauen. Dieses Land ist nicht mehr jenes, das ich in meiner Jugend gekannt habe. Aber es ist zu spüren, dass die hiesigen Menschen begonnen haben, eine Zugehörigkeit zu Europa zu empfinden: sie sind von ihm nicht mehr hermetisch abgeriegelt, wie es viele Jahrzehnte lang der Fall gewesen war. Es drängt sie dorthin, wie es auch in Litauen geschieht. Einige haben inzwischen auch wieder einen Zugang zur Geschichte des Gebiets gefunden. Offenbar fühlen viele Kaliningrader zum ersten Mal, dass hier vor dem Nationalsozialismus und dem Krieg ein gutes Jahrtausend lang Bedeutsames geschehen ist. Diese Aneignung der Vergangenheit ist ein Bestandteil des Drangs nach Europa. Unser Kontinent unterscheidet sich ja dadurch von anderen, dass er ganz in die Geschichte eingebettet ist.

Kleinlitauen

Die wichtige Frage, auch für Litauen, ist, dass das Gebiet des einstigen Königsberg aufhört, eine Anomalie unter seinen Nachbarn zu sein, um so mehr, als diese inzwischen einen Aufschwung erleben. Und deshalb lohnt es sich, ruhig und ohne überflüssige Rhetorik oder Misstrauen unsere Beziehungen zu klären. Viele Kalinigrader verdächtigen Litauen territorialer Ansprüche, eines geheimen, aber schlecht verheimlichten Traums, das Gebiet zu erobern, die heutigen Bewohner zu vertreiben oder zum Gebrauch der litauischen Sprache zu zwingen. Die litauische Regierung hat vielfach erklärt, dass sie keine territorialen Forderungen an die Nachbarn erhebt. Aber es gibt in Litauen tatsächlich Kreise - oder eher einzelne Leute -, die mit ihren Worten und Taten das gegenteilige Bild bestärken können.

Die Litauer nennen das Kaliningrader Gebiet (und auch das anliegende Memelland) oft Kleinlitauen. Diese Bezeichnung haben sich nicht moderne Nationalisten ausgedacht. Sie ist mindestens seit dem 16. Jahrhundert bekannt. In lateinischer oder deutscher Form gelangte sie in Chroniken, auf Landkarten und in Verwaltungsdokumente. Vor 1000 Jahren war das gesamte Land von baltischen Stämmen besiedelt (was vorher war, ist praktisch unbekannt). Im Westen, um das heutige Kaliningrad herum, waren dies die Pruzzen, die sich später mit den Ankömmlingen aus Deutschland vermischten und selbst zu Deutschen wurden - sie waren es, die dem in der Geschichte Europas als Preußen bekannten deutschen Staat (der durch den Beschluss der Potsdamer Konferenz vernichtet worden ist) seinen Namen gegeben haben. Als Philologe kenne ich die pruzzische Sprache (sie ist im 17. Jahrhundert ausgestorben, aber drei pruzzisch geschriebene Bücher sind erhalten): Sie ist schwieriger und archaischer als das Litauische, ihm aber etwa so ähnlich wie Polnisch oder sogar Ukrainisch der russischen Sprache.

Wiege litauischer Kultur

Meine Kaliningrader Freunde haben mich kürzlich in das Dorf Romanowo (deutsch: Pobeten, litauisch: PabeÇciai, russisch: Pabetai) gefahren. Dort stehen bis heute die Ruinen einer Kirche - der einzigen, von der bekannt ist, dass in ihr auf Pruzzisch gebetet wurde. Es war der Kanonikus eben dieser Kirche, der das umfangreichste der drei erhaltenen pruzzischen Bücher herausgegeben hat. Der Zustand der Kirche, wie auch des ganzen Dorfes, lässt zu wünschen übrig, wobei erkennbar ist, dass sie nicht so sehr während des Krieges als vielmehr danach zerstört worden ist (an den Wänden sind übrigens sogar noch Reste von Fresken sichtbar). Es wäre eine wunderbare Geste, wenn sie (vielleicht mit Hilfe Litauens) wiederhergestellt und im Dorf ein Museum für das vernichtete Volk eingerichtet würde.

Die Litauer haben sich im Gegensatz zu den Pruzzen viel länger in der östlichen Hälfte des Gebietes gehalten - zum Teil, weil sie im Hinterland ihren eigenen Staat hatten, das Großfürstentum Litauen, das Ostpreußen mit Übersiedlern versorgte. Im 16. Jahrhundert konvertierten sie, wie alle Ortsansässigen, vom Katholizismus zum Luthertum. Die Lutheraner waren im Gegensatz zu den Katholiken bestrebt, die Religion in den einheimischen Sprachen zu predigen. Deshalb wurden ausgerechnet in Königsberg das erste litauische Buch, die erste Fibel und die erste Bibelübersetzung gedruckt (im Großfürstentum selbst wurde mehr in Latein und in Polnisch geschrieben, und wenn in Litauisch, dann nur als Spitze gegen die Lutheraner). In eben dieser Region erschienen die erste litauische Grammatik, die ersten Gedichte, das erste Fabelbuch, die erste Zeitung, die ersten wissenschaftlichen Arbeiten und die erste Folkloresammlung. An der Königsberger Universität wurde der erste Lehrstuhl für litauische Sprache weltweit eingerichtet. All das geschah vor langer Zeit, etwa in der Epoche vor und unter Peter dem Ersten in Russland. Im Dorf Tolminkehmen (litauisch: Tolminkiemis, heute: Tschistyje Prudy), etwa 20 Kilometer entfernt von der litauischen Grenze, lebte der Dichter Donelaitis - der erste litauische Autor, der zu europäischer Berühmtheit gelangt ist. Sein Poem "Die Jahreszeiten" wird noch heute in litauischen Schulen gelesen, aber auch einfach so, zum Vergnügen. Auf der Grundlage des Dialekts von Donelaitis ist die litauische Literatursprache entstanden. Und auch später hat Ostpreußen in der Geschichte Litauens eine gewaltige Rolle gespielt. Als die zaristischen Behörden den Druck in litauischer Sprache verboten, wurde er auf deutschem Gebiet organisiert, wo die Zensur ihn nicht behinderte. Die erste Zeitung zur Befreiung Litauens, "AuÇsra", wurde in Ragnit und Tilsit herausgegeben und nach Litauen geschmuggelt (viele Schmuggler sind übrigens in Sibirien gelandet). Das Gründungsdatum der "AuÇsra", das Jahr 1883, gilt allgemein als Geburtsdatum der modernen litauischen Nation.

Das alles kann ein Volk nicht vergessen, und sollte es auch nicht - sonst verliert es seine historische Identität. Genau auf dieselbe Weise werden die Russen Kiew niemals vergessen - die erste Sophienkathedrale, die ersten Chroniken, die Mohyla-Akademie, die Ukraine Gogols und Michail Bulgakows. Daraus folgt noch nicht, dass die Ukraine an Russland angeschlossen werden muss und das Kaliningrader Gebiet an Litauen.

Litauische Minderheit

Interessant ist, dass sich die Litauer im Kaliningrader Gebiet als nationale Minderheit gehalten haben - und fast im gleichen Ausmaß wie vor dem Zweiten Weltkrieg. Dies ist angesichts der gewaltigen Umwälzungen, die hier vonstatten gegangen sind, erstaunlich. Man sagt, es seien sogar einige Vorkriegsfamilien geblieben. Die anderen sind Übersiedler, wie die Russen. In den zurückliegenden Jahren sind sie aktiver geworden, es sind litauische Schulen und Gemeinschaften entstanden, Kirchen sind eröffnet worden in Sowjetsk und in Kaliningrad selbst, wo es so etwas seit etwa 100 Jahren nicht gegeben hat. Kurz, in einem gewissen Maß wird die Situation vor der Naziära wiederhergestellt. Und das ist meiner Meinung nach gut: Sie entspricht nicht nur den demokratischen Standards, sondern verleiht dem Gebiet auch größere Anziehungskraft und Vielfalt - und kann in der Zukunft auch seinem Erblühen dienlich sein.

Im Falle Kaliningrads kann man von einem wirtschaftlichen Interesse Litauens (seine Präsenz im Gebiet ist bereits spürbar) und von einem ökologischen Interesse sprechen (die Kurische Nehrung und Bucht sind natürlich unsere gemeinsame Angelegenheit), vor allem aber von einem historisch-kulturellen Interesse. Andere Völker, vor allem die Deutschen, haben dieses Interesse auch, aber für die Litauer ist es vermutlich stärker. Die ehemalige ostpreußische Region hat für Deutschland nie eine so grundlegende Rolle gespielt wie für Litauen.

Für jeden Litauer ist es wichtig, dass das kulturelle Erbe des so genannten Kleinlitauen erhalten bleibt. Es gibt Stimmen, die behaupten, es sei für immer verloren. Dem ist zweifellos nicht so, aber zu seiner Erhaltung kann viel mehr getan werden - dies wäre ein Wunsch. Man sagt, dass die Kaliningrader diesen Wunsch nicht hätten. Es kann sein, dass die Litauer in dem bürokratischen Durcheinander und der Tatenlosigkeit, die hier üblich sind, eine böse Absicht erblicken. Aber vieles könnte erleichtert werden, wenn wir das Thema vollständig enttabuisieren würden - wenn wir öfter aufrichtig (und zivilisiert) über alle Probleme und Kränkungen reden würden.

Eine bessere Zukunft

Ich will zum Beispiel nicht verbergen, dass die Frage der traditionellen geographischen Bezeichnungen für viele Litauer sehr schmerzhaft ist. Aber etwas anderes beschäftigt mich mehr als Namen oder zerstörte Denkmäler. Ich denke an die Menschen - zum Beispiel an die junge Schmugglerin, die zwischen Sowjetsk und Taurage hin- und herfährt, an die jungen Männer in der Kaliningrader Bar, an den Schüler, dem es bestimmt war, irgendwo in Tschistyje Prudy oder Romanowo aufzuwachsen. Ich wünsche mir, dass ihr Leben weniger von Armut und Unsicherheit geprägt sein wird, dass sie ihm mehr Sinn verleihen können. Ich wünsche mir, dass sie besser verstehen, wo sie leben und die Orte, mit denen ihr Schicksal verknüpft ist, verbessern wollen. Das könnte bisweilen hoffnungslos scheinen. Aber in einem gewissen, wenn auch sehr kleinen Maß hängt es von jedem von uns ab.

Tomas Vencloca, litauischer Lyriker und Publizist, ist seit 1980 Professor an der Universität Yale.

Gekürzter Vorabdruck aus der Zeitschrift "Transit - Europäische Revue", Heft 23.

Aus dem Russischen von Claudia Sinnig.

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