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Freiheit, Teilung und Annexion
Die Verhältnisse sind kompliziert in dieser kleinen Ecke Europas: Spricht man von den baltischen Ländern, sind Estland, Lettland und Litauen gemeint; ist hingegen von den baltischen Völkern und Sprachen die Rede, handelt es sich nur um Letten und Litauer (und die vom Deutschen Orden ausgerotteten Pruzzen), die Esten gehören zur finnisch-ugrischen Völker- und Sprachenfamilie (deren wichtigste Repräsentanten in Europa die Finnen und Ungarn sind).
Geschichtlich wiederum haben Estland und Lettland eine sehr ähnliche Entwicklung hinter sich. Ein gemeinsames politisches Schicksal der baltischen Länder gibt es erst seit dem Ersten Weltkrieg; Letten und Esten errangen in seiner Folge zum ersten Mal die Eigenstaatlichkeit, nur die Litauer hatten schon viel früher ein bedeutendes Staatsgebilde geschaffen.
Großfürst Gediminas (1316-1341), dem Gründer von Vilnius, gelang es, die litauischen Stämme zu einem Staatsgebilde zu vereinen und dem Deutschen Orden standzuhalten. Durch den Niedergang der Kiewer Rus und die Bedrohung durch die Tataren wuchs das Reich weit nach Osten und Süden.
Die Heirat des litauischen Großfürsten Jongaila (Jagiello) mit der polnischen Königstochter Jadwiga führte 1386 zur Personalunion von Litauen und Polen,die 1579zu einer Realunion wurde. Die erste Bewährung der Union war die vernichtende Niederlage, die dem Deutschen Orden 1410 in der Schlacht bei Tannenberg zugefügt werden konnte. In der Folge entstand ein Staatsgebilde, das mit seiner Ausdehnung von der Ostsee bis fast ans Schwarze Meer zu den flächengrößten Staaten Europas zählte.
Bis zu ihrer Christianisierung 1387 (FURCHE-Dossier 23/87) waren die Litauer die letzten Heiden Europas. Nach einem frühen Auftreten der Reformationsbewegung wurde Vilnius durch die Jesuiten, die 1579 die Universität gründeten, ein Zentrum der Gegenreformation; der Barock ist bis heute ein prägendes Element der Silhouette der Stadt.
Das Siedlungsgebiet der Esten und Letten hingegen bildete von 1346 bis ins 16. Jahrhundert der livländische Ordensstaat. Nach seinem Zerfall fiel Estland (später auch Livland) an Schweden, Kurland an das polnisch-litauische Jagellonenreich. Die Reformation konnte sich überall ausbreiten außer in Lettgallen („Polnisch Livland"), das bis 1795 bei Polen-Litauen verblieb. 1721 konnte Rußland Estland und Lettland gewinnen und sich damit einen Zugang zur westlichen Staatengemeinschaft erwerben. Litauen konnte sich Rußland erst 17 9 5, bei der dritten polnischen Teilung, einverleiben, wobei allerdings das südwestlitauische Gebiet Suwalkia an Preußen und 1807 an das Herzogtum Warschau fiel.
Die völlig verschiedene Entwicklung seit dem 13. Jahrhundert hat Auswirkungen bis in die Gegenwart: Der Kontrast des mitteleuropäisch-barocken Vilnius zu den nordisch-hanseatisch geprägten Städten Riga und Tallinn (Reval) springt jedem Touristen ins Auge, der Gegensatz katholisch-protestantisch hat das geistige Leben durch Jahrhunderte bis heute geprägt. Während die baltendeutsche Oberschicht in Estland und Lettland bis zum Zweiten Weltkrieg große Bedeutung hatte, kam es in Litauen durch Jahrhunderte zu einer Polonisierung der Oberschicht.
An den polnischen Aufständen von 1830/31 und 1864 war Litauen wesentlich beteiligt. Ersterer führte zur Schließung der Universität Vilnius - zuvor hatten die Russen beraits die Burg und die große Schloßanlage im Herzen der Stadt zerstört und die Stadtmauer geschliffen. Nach dem zweiten Aufstand kam es zu einem Druckverbot für litauische Bücher, das bis 1905 anhielt. Die Aufhebung der Leibeigenschaft geschah - wie in Rußland-erst 1861, während sie in Estland, Livland und Kurland schon 1816-19 möglich war.
Die Niederwerfung des Aufstandes von 1905 erfolgte in den baltischen Provinzen mit besonderer Härte, es gab Strafexpeditionen, Standgerichte und Deportationen nach Sibirien. In der Folge kam es aber zu einer Erleichterung des muttersprachlichen Unterrichts und größeren wirtschaftlichen Freiheiten. In allen drei Staaten erstarkten die nationalen Bewegungen; während in der Stadtregierung Rigas die Deutschen noch 1913 deutlich in der Überzahl waren, errangen die Esten schon 1904 als erste die Mehrheit in der Regierung ihrer Hauptstadt.
Die Folgen des Ersten Weltkrieges, der russischen Revolution und des Bürgerkrieges brachten den baltischen Völkern die Eigenstaatlichkeit. Nach Kämpfen und Verhandlungen mit den Deutschen und dem Intermezzo von Sowjetregierungen mit ihrem Terror - viele Einzelheiten und regionale Besonderheiten wären der Darstellung wert - konnten alle drei Staaten 1920 ihren Friedensvertrag mit Moskau schließen. Livland, Kurland und Lettgallen waren zu Lettland vereinigt, auch sonst entsprachen die Staatsgrenzen weitgehend den ethnischen und Sprachgrenzen.
In kurzer Zeit haben die jungen Demokratien erstaunliches geleistet: So galt das Sozialsystem Lettlands (das Land führte als eihes der ersten Länder den Acht-Stunden-Tag ein) als vorbildlich, die Minderheitenrechte der estnischen Verfassung wurden selbst noch nach dem Zweiten Weltkrieg als beispielhaft und effektiv gerühmt (im Land gab es Russen, Deutsche, Schweden und Juden), Litauen brachte es binnen 17 Jahren fertig, das Analphabetentum von anfangs noch 44 auf 17 Prozent zu senken.
In allen drei Staaten ist die Agrarreform gelungen - in Estland und Lettland war der Großgrundbesitz meist in baltendeutscher Hand -, die Landwirtschaft war sehr effektiv. In Litauen mußte die Industrie erst aufgebaut werden, in Est- und Lettland waren eine Umstrukturierung und die Erschließung neuer Absatzmärkte nötig.
In allen drei Staaten schuf man eine Verfassung, die den zahlreichen Parteien (und Minderheiten) relativ leicht Zugang zur Macht ermöglichte, aber instabile Regierungen mit sich brachte. Zudem gefährdeten die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise die jungen Demokratien. Schon 1926 kam es in Litauen durch einen Offiziersputsch zu einem ■ nationalistisch-konservativen diktatorischen Regime, 1934 folgte der Ausnahmezustand in Lettland und Estland, überall wurden die politischen Parteien aufgelöst und das Parlament ausgeschaltet. Lediglich Estland fand teilweise zur Demokratie zurück.
Besondere Probleme Litauens waren das Memel-Gebiet (internationale Zone) und das Verhältnis zu Polen. Polen wollte zunächst den polnisch-litauischen Staat wieder-errichten und annektierte 1920 das Gebiet von Vilnius. Kaunas wurde „provisorische Hauptstadt" Litauens, die Demarkationslinie zu Polen war eine tote Grenze, der Postverkehr wurde bis 1938 über Lettland oder Deutschland abgewickelt.
1939 wurden die baltischen Staaten im Hitler-Stalin-Pakt der sowjetischen Interessensphäre zugeteilt. Die Sowjetunion erzwang daraufhin militärische Beistandspakte, mischte sich immer mehr in die inneren Angelegenheiten der drei Staaten ein und suchte (beziehungsweise provozierte) dann fadenscheinige Anlässe, um 1940, als alle Aufmerksamkeit und militärischen Kräfte der Westmächte durch die deutsche Westoffensive gebunden waren, im Baltikum einzumarschieren. „Volksregierungen" wurden eingesetzt, Scheinwahlen nach sowjetischem Muster organisiert und die Eingliederung in die Sowjetunion vollzogen.
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