Die Europäische Union und ihr Nerd

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Estland übernahm die EU-Ratspräsidentschaft. Die Esten sind Vorreiter im digitalen Bereich und wollen ihren Optimismus auf die EU übertragen.

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Estland übernahm die EU-Ratspräsidentschaft. Die Esten sind Vorreiter im digitalen Bereich und wollen ihren Optimismus auf die EU übertragen.

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Europa kann viel von Estland lernen. Unsere großzügige Elternzeit, Umweltschutz, gute Ausbildung. Vor allem könnte unsere E-Politik als Inspiration dienen", meint Ave Habekuk, eine von Tallins Digital Natives. "Ich kann alles mühelos von jedem Ort aus erledigen, sogar eine Firma in fünf Minuten gründen, der Staat wird quasi unsichtbar", ergänzt die Mittzwanzigerin. Sie sitzt im Industrie-Chic des Renard-Cafés im trendigen Stadtteil Kalamaja in der Hauptstadt Tallin. Angeschlossen sind eine Motorrad-Werkstatt, ein Barbier und ein Schallplatten-Laden. Hier trifft sich die IT-Szene. Der Internettelefondienst Skype und die Geldüberweisungs-Technik TransferWise wurden hier ausgetüftelt. Und die papierlose, transparente Verwaltung.

Ave ist begeisterte Europäerin und stolz, dass die restliche EU nun auf die 1,3 Millionen Esten blickt. Am 1. Juli hat Estland die Ratspräsidentschaft der EU übernommen. Eigentlich wäre das baltische Land erst nächstes Jahr an der Reihe gewesen, sprang aber kurzfristig für das ausscheidende Großbritannien ein.

"E-Stonia" ist mit seinen digitalen Innovationen sozusagen der Nerd der Europäischen Union. Das beginnt schon bei den Personalien: Der estnische Ausweis ist eine Chipkarte, über die man online wählen, in fünf Minuten die Steuererklärung erledigen oder eine Firma gründen kann, vom Arzt eine Verschreibung erhält oder im Laden bezahlt. Auch das Kabinett tagt digital.

Die neue Strategie führt jedenfalls zu ungewöhnlichen Situationen: Ausländer können beispielsweise unkompliziert E-Citizens werden und eine Firma in Estland gründen, ohne je im Land gewesen zu sein. 23.000 solcher ausländischen Gründer gibt es bisher. Die Vorteile preist die Regierung in höchsten Tönen. Die Digitalisierung spart jährlich zwei Prozent des Haushalts und den Bürgern viel Zeit und Nerven.

Da auch die Datensicherheit hochentwickelt ist, wuchs Habekuks Generation mit großem Vertrauen in den digitalen Fortschritt auf. Habekuk ist sich sicher: Estland müsse im präsidialen Halbjahr darauf drängen, dass die EU-Bürger besser auf Industrie 4.0, etwa fahrerlose Autos und künstliche Intelligenz und das Internet der Dinge vorbereitet werden. Lebenslanges Lernen sei dabei zentral. Zumindest in der EU-Kommission sollte das Anliegen verstanden werden -zuständig für digitale Wirtschaft und Gesellschaft ist seit Jahresanfang Andrus Ansip, der als Ministerpräsident E-Stonia auf den Weg brachte.

Europas Vorbild werden

Die Agenda der Ratspräsidentschaft ähnelt daher bisher auch einem dieser "Bar Camp" genannten Kongresse zur digitalen Zukunft. Ministerrunden tagten zu E-Health und Cyber Security. Mitte September lädt Tallin zum hochrangigen Kongress über "Die Zukunft der Arbeit-Making It e-Easy", am 29. folgt der Tallinn Digital Summit, bei dem es darum geht, inwiefern E-Stonia als europäisches Vorbild taugt.

Aber auch die estnische Lebensart scheint großen Anklang zu finden. Den Deutschen Florian Marcus überzeugt gerade der wortkarge, aber ehrliche und zuverlässige Umgang im estnischen Alltag. Florian kommt aus Kaltenkirchen bei Hamburg. Vor etwa fünf Jahren kam er aus Neugier als Couchsurfing-Besucher, wollte das Land kennenlernen, das ausgerechnet an seinem Geburtstag im Jahr 1991 unabhängig wurde.

Inzwischen spricht er fließend Estnisch, ist mit 25 bereits Redakteur und Übersetzer in dem Team, das in der Staatskanzlei die EU-Ratspräsidentschaft betreut. Auch er sieht die Digitalisierung und Datenfreizügigkeit als die wichtigste Initiative des Ratsvorsitzes. In Estland hat der Staat zwar Zugriff auf viele Daten, jedoch wird jeder Bürger, auf dessen Datensatz zugegriffen wird, darüber automatisch informiert. Dagegen kann man Einspruch erheben und es gibt bei tatsächlichem Datenmissbrauch empfindliche Strafen. Natürlich sei auch die Sicherheitspolitik ein Anliegen des präsidialen estnischen Semesters, so Marcus. "Die Esten haben ein anderes Sicherheitsgefühl durch die gemeinsame Grenze und die schlechten historischen Erfahrungen mit Russland", sagt er. Beruhigend sei, dass Estland auch bei der Abwehr von Cyberangriffen an der EU-Spitze stehe.

Die historische Erfahrung machte Politik, als Tallinn Ende August zum informellen Treffen der Justizminister zu den "Verbrechen der kommunistischen Regime" lud.

Verklärung Stalins

Alleine im Juni 1941 wurden etwa 10.000 Männer, Frauen und Kinder nach Sibirien deportiert. Der griechische Justizminister blieb fern, der linke Block im Europäischen Parlament fühlte sich erwartungsgemäß auf den Fuß getreten.

Jekaterina Kolbina, gerade auf Heimatbesuch aus Berlin, sorgt sich um die Verklärung des Stalinismus in Kreml-nahen Medien. Kolbina stammt aus der Grenzstadt Narva. Dort sind 95 Prozent der Bevölkerung russischstämmig, 23 Prozent sind es in Estland insgesamt. "In Narva fühlt sich nicht jeder als Teil des coolen E-Stonia, viele glauben einseitig negativen Berichten Kreml-freundlicher Medien", sagt Kolbina. Viel zu spät habe das estnische Staatsfernsehen 2015 darauf mit einem russischen Kanal reagiert. Estland müsse die EU als Ratspräsident zu entschlossenerer Bekämpfung von Fake News und Propaganda anregen, fordert Kolbina. Erschrocken über Propaganda-Posts russischsprachiger FacebookFreunde hofft sie, dass die Europäische Union smarte Aufklärungskampagnen gezielt für die sozialen Netzwerke entwickelt. Ihrer Heimat wünscht sie mehr Offenheit für andere Kulturen, wie das etwa in Berlin der Fall sei. Und auch einen etwas freundlicheren Umgangston.

Sorgen mit dem Datenschutz

"Deutschsprachige Besucher fragen mich als Erstes nach dem Datenschutz", sagt Priit Alamäe. "Dabei sind meine digitalen Daten bei uns viel besser geschützt als auf Papier in irgendeiner deutschen Behörde oder Arztpraxis, wo sie jeder einsehen kann, ohne Spuren zu hinterlassen."

In Estland habe Datenschutz Priorität. Mit seiner Firma Nortal hat Alamäe den digitalen Wandel im Regierungsauftrag wesentlich geprägt. "Eine offene und innovative europäische Wirtschaft" hält er für einen wichtigen Punkt der estnischen EU-Agenda, die EU müsse vom Regulierer zum Ermöglicher von Innovationen werden.

Er berät inzwischen weltweit Regierungen und Unternehmen, deutsche Behörden bislang allerdings noch nicht. Obwohl die es besonders nötig hätten. Beim digitalen Wandel habe Deutschland heute zehn Jahre Rückstand zu Estland, schätzt Alamäe. In Estland sei es entscheidend gewesen, dass die Umwandlung sehr transparent und im Dialog mit der Gesellschaft eingeleitet wurde und Wirtschaft und Politik an einem Ende des Tisches saßen. Mittlerweile bewerben sich Spitzenprogrammierer aus aller Welt bei ihm, von Brain Drain ist nicht die Rede.

Den Beginn der Ratspräsidentschaft feierte die politische Spitze gemeinsam mit den Tallinern bei einem Open Air-Konzert am Freiheitsplatz. Organisiert wurde es von Helen Sildna, Gründerin des Tallin Music Festivals. Sie glaubt, dass Estlands flache Hierarchien und kurze Wege die EU inspirieren könnten. "Bei uns sagt man, die Lösung ist immer nur drei Telefonate entfernt", so Sildna. Sie hofft, dass der estnische Optimismus ansteckend wirkt - ein Optimismus, den die EU zuletzt verloren hat. Florian Marcus teilt die Hoffnung. Er schätzt den estnischen Ansatz, "dass die beste Zeit noch vor uns liegt".

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