Wer sich bisher über das Baltikum informieren oder auf eine Reise dorthin vorbereiten wollte, sah bald, daß es mit diesbezüglicher Literatur schlecht stand: Manfred Hellmanns „Grundzüge der Geschichte Litauens", 1986 in dritter Auflage in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt erschienen, bietet profunde Information, endet im wesentlichen aber mit dem Zweiten Weltkrieg; entsprechende Bände über Lettland und Estland existieren leider nicht.
Die „Geschichte der baltischen Staaten" von Georg von Rauch, in zweiter Auflage 1977 bei dtv verlegt, ist noch immer ein Standardwerk, aber leider inzwischen vergriffen; die Darstellung endet 1945.
Der einzige Reiseführer durch die baltischen Staaten, 1987 von Heinz-Dieter Schilling herausgegeben, strotzt nicht nur von Fehlern und Oberflächlichkeiten, vor allem die Passagen zur Geschichte lesen sich, als wären sie von sowjetischen Propagandaschriften abgeschrieben. Niemandem möchte man dieses Machwerk in die Hand geben.
Vor wenigen Monaten hat der anerkannte Ostrechtsexperte Boris Meissner einen Sammelband herausgegeben, der die Lücke schließt. Hier wurde nicht eilig auf den schnellebigen Markt und die Tagesaktualitäten reagiert, sondern ein neues Standardwerk geschaffen. (Stand: Jänrier 1990).
Nach einem historischen Abriß der drei baltischen Staaten ist je ein Kapitel dem estnischen, lettischen und litauischen Staat von 1918 bis 1940 gewidmet. Drei weitere Kapitel stellen die baltischen Sowjetrepubliken bis 1989 dar.
Die beiden Estland-Kapitel stammen von dem in Salzburg lehrenden estnischen Ostrechtsexperten Henn-Jüri Uibopuu. Der amerikanische Politologe litauischer Abstammung V. Stanley Vardys hat die Litauen-Darstellungen verfaßt, zwei anerkannte exillettische Autoren stellen die Entwicklung Lettlands dar.
Ein eigenes Kapitel ist dem Wandel der Sozialstruktur gewidmet. Boris Meissner selbst hat ein Kapitel über die staatliche Kontinuität und völkerrechtliche Stellung der baltischen Länder beigetragen. Auch über die Baltikum-Forschung in Deutschland, Österreich und in anderen Ländern kann man sich informieren.
Das Buch wertet nationalsprachliche, russische und westliche Dokumente aus. Eine Darstellung der politischen, geschichtlichen, wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Entwicklung des Baltikums von annähernd ähnlicher Vollständigkeit hat im deutschen Sprachraum bisher nicht existiert. Niemand kann darauf verzichten, der diese Länder verstehen will.
DIE BALTISCHEN NATIONEN. Estland -Lettland - Litauen. Hrsg. von Boris Meissner. Markus Verlag, Köln 1990, brosch., 324 Seiten, öS 374,40.