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Kein Ausflugsziel

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Zwischen dem 16. und 18. September 1968 waren westliche Korrespondenten Gäste in der Hauptstadt der Moldauischen Unionsrepublik, in Kischinev (Chisinau). Zuständige Behörden des Kreml hatten die Einladung in einem Augenblick ausgesprochen, als die Weltpresse von der Bedrohung Rumäniens durch Massierung von rund 14 sowjetischen Divisionen entlang der Pruth-Grenze gegenüber Rumäniens schrieben. Wenige Beobachter vermerkten gleichzeitig, daß diese Einladung zugleich eine Moskauer Demonstration gegenüber Rumänien war: Die westlichen Korrespondenten kannten nämlich nicht bloß feststellen, daß von sowjetischen Truppeneinheiten weit und breit nichts zu sehen war; sie nahmen gleichzeitig zur Kenntnis, daß die Sowjetunion diese Unionsrepublik als unlöslichen Bestandteil der sowjetstaatlichen Föderation ansieht. Bis zum 23. August 1944 war dieses Gebiet der Moldauischen Unionsrepublik noch zu 90 Prozent eine 600 Jahre alte rumänische Provinz, die damals Bessarabien hieß.

Nation aus der Retorte

Das eigentliche Erlebnis der westlichen Korrespondenten bestand jedoch in dem Eindruck, daß die „Moldauische Nation“ eine wirklich sozialistische Nation aus der Retorte ist: kreiert aus dem rumänischen Bessarabiertum, dessen Schrift man durch Cyrelika ersetzte, dessen Literaturgeschichte und Geisteserbe aus der westlich von Bessarabien gelegenen Provinz Moldau ausgeborgt worden war. Die fürstlichen Croni- cari (Chronisten) aus Jasi zählen ebenso zu dem Bestand der moldauischen Kulturgeschichte wie Mihail Sadoveanu, der in seinen alten Ta

gen Hof poet der Bukarester Volksrepublik nach 1945 wurde

Das Verfahren dieser Nationsbildung aus der Retorte sieht also so aus: Vergleichsweise könnte man die Tiroler Mundart zur Hochsprache erklären und die dortige Literaturgeschichte durch Überlieferungen der Nachbargebiete ein wenig anreichem.

Begehrte Lieferanten

Seit dem 23. August 1944 befindet sich also Mattelbessarabien als Unionsrepublik im Territorialbestand der UdSSR. Kaum jemand weiß, wie wesentlich die Wirtschaft Bessarabiens zu der Gesamtleistung in der Sowjetunion beiträgt. Dazu muß man einfach einige Daten zur Kenntnis nehmen:

Im Unionsmaßstab ist die Moldauische SSR die vorletzte Republik (0,2 Prozent), der Bevölkerung nach die achte (1,4 Prozent). Die globale agrarwirtschaftliche Produktion erreicht im Unionsmaßstab dagegen 3,2 Prozent, d. h. elf- bis sechzehnmal mehr als der spezifische Anteil auf Grund des Territoriums. Bezüglich Traubenlieferungen nimmt die Sowjetmoldau die Spitzenstellung unter den Anbaugebieten der UdSSR ein: 980.000 Tonnen (26,4 Prozent) im Jahre 1965. Lediglich 1966 verlor die Moldau auf Grund einer ungünstigen Witterung den ersten Platz. In der Obst- und Früchteproduktion besetzt die Moldau den dritten Platz der Anbaugebiete. Ein Drittel des fermentierten Tabaks, fast ein Viertel der vegetabilischen öle, 9,7 Prozent der Konserven im Unionsmaßstab erzeugt die Sowjetmoldau. ,Die Moldau aber befindet sich auf dem ersten Platz unter den Republiken, nicht bloß auf Grund ihrer Boden

fruchtbarkeit. Wenn im Unionsmaßstab die landwirtschaftlichen und kultivierten Böden 25 Prozent, beziehungsweise 10 Prozent der gesamten Bodenfläche erreichen, so liegen für die Moldau die Ziffern bei 60 beziehungsweise 70 Prozent. Die Qualität der bessarabischen Erzeugnisse ist angesehen.

Die Sowjetmoldau wies 1965 bis 1966 auf 10.000 Einwohner 108 Hochschulstudenten und 98 Schüler der mittleren Ausbildung auf. Indessen Unionsdurchschnitt: 166 beziehungsweise 158. Die Ziffern für Lettland 146 und 169, Litauen 155 und 193, Estland 160 und 215.

1966 zählte man in der Sowjetmoldau auf 100.000 Einwohner 113 wissenschaftliche Forscher (gegenüber 288 im Unionsdurchschnitt, 211 in Litauen, 273 in Lettland und 267 in Estland).

Diese imponierenden Zahlen können auf dem Sektor der Nationalitätenpolitik und der rumänischen Eigankultur nicht mit vergleichbaren Daten ergänzt wenden: Die Universität Kischinev kennt keine rumänische Vorlesungs- und Unterrichtssprache. Die Hauptstadt der Moldauischen SSR wies vor 1944 noch eine rumänische Bevölkerungsmehrheit auf. Heute haben Russen und Ukrainer rund 40 Prozent der hauptstädtischen Bevölkerung erreicht, während in Kischinev nur noch 30 Prozent Rumänen leben.

Die kommunistische „Verschmelzung"

Fast unvermerkt ist noch ein Detail der Bevölkerungspoldtik der Moldauischen SSR nach 1945 geblieben: Eine überhöhte Anzahl junger Bessarabier sind zur Erschließung von Neuland nach Sowjetasien abgeworben und verschickt worden, während der Zufluß andersnationaler Arbeitskräfte in die Moldauische SSR die Zahl der Nationalitäten in diesem kleinen Land auf insgesamt 20 Gruppen erhöht hat. Diesbezüglich muß man einmal nachlesen, was

die Jubiläurnsnummer des ZK-Orga- nes der Moldauischen KP, „Comuni- stul Moldovei“ (Oktober 1964, 9. Jahrgang, Beitrag von A. Lazarev) schrieb:

„Dieser Prozeß ist ein Resultat einer beträchtlichen Wanderbewegung der Bevölkerung innerhalb der Grenzen der Sowjetunion.. " „Im Zeichen der oben aufgezeigten Grundsätze findet ein beachtlicher Abfluß der Bevölkerung unterschiedlicher Nationalität nach Kasachstan, in die Ukraine, in die Moldau und in eine Anzahl anderer Republiken statt.“

„ Jetzt leben in der Moldauischen SSR Vertreter von mehr als 20 Völkern, die in brüderlicher Freundschaft untereinander verbunden sind.“

Für die Moldauer wie für die übrigen Völker der Union der SSR ist die russische Sprache die zweite Muttersprache geworden “

„Im Zuge dieses Aufbauwerkes wird sich die Einheit der sozialistischen Nationen mehr und mehr festigen. Der objektive Prozeß der Annäherung der Nationen wird immer wieder neue Elemente der Einschmelzung hervorbringen, die in einer bestimmten Entwicklungsetappe Gemeingut der kommunistischen Gesellschaft sein werden, die die vorherrschende Tendenz darstellen und zur Verschmelzung sämtlicher Nationen in unserem Lande führen werden."

Wie man sieht, bildet die Sowjetmoldau und Kischinev nicht bloß für einige westliche Korrespondenten ein Ausflugsziel, das eine Reise wert ist. Das Experiment einer neuen sozialistischen Nation fst in hohem Grade für jeden Europäer beachtenswert. Zugleich aber wird man verstehen, daß auch im heutigen linientreuen und internationalistischen Rumänien dieses Land Bessarabien zwar zugunsten der UdSSR abgeschrieben, aber nicht vergessen worden ist.

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