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In den Erzählungen aus Litauen spukt die Vergangenheit. Die Übersetzungen von Cornelius Hell berühren.

Litauen: ein Land mit 3,7 Millionen Einwohnern und einer Hauptstadt - Vilnius - , die derzeit ihr altes Zentrum in frischen Pastellfarben erneuert.

Seit zwölf Jahren ist Litauen ein unabhängiger Staat mit 453 unabhängigen Verlagen; zur Sowjetzeit existierten gerade einmal sechs Staatsverlage, von der Zensur gegängelte, versteht sich.

Die Frankfurter Buchmesse 2002 widmete sich Litauen: Gelegenheit, die Literatur des Landes auch hierzulande bekannt zu machen, und Grund genug, den bisher viel zu wenigen Übersetzungen litauischer Bücher ins Deutsche noch einige gute hinzuzufügen.

Der Literaturkritiker Cornelius Hell arbeitete 1984-86 als Lektor für deutsche Sprache an der Universität Vilnius, lernte die schwierige, altertümliche Sprache und legt jetzt ein Zeugnis seiner unverbrüchlichen Liebe zu dem geschundenen Land vor. Er hat Prosatexte vorwiegend jüngerer Autoren ins Deutsche übersetzt und bietet auch einen Überblick über die litauische Literaturgeschichte.

Das erste schriftliche Zeugnis litauischer Literatur ist der Lutherische Kleine Katechismus, die ersten "weltlichen" Texte stammen aus dem 18. Jahrhundert. Von 1864 an galt in Litauen ein Druckverbot für Bücher in litauischer Sprache. Der Zar konnte das geistige Leben aber nicht völlig unterdrücken. Die erste Blüte der Literatur nach Ende des Druckverbots (1905) wurde durch die sowjetische Okkupation im Jahr 1940 vernichtet.

Damals, so berichtet Cornelius Hell, emigrierte ein Drittel der Mitglieder des litauischen Schriftstellerverbandes; viele Autoren verschwanden in sibirischen Lagern. Dann kamen die Deutschen und löschten die litauischen Juden aus. Und die zurückgekehrten Russen mordeten weiter. Insgesamt verlor das Land durch all diese schrecklichen Ereignisse innerhalb eines Jahrzehnts 30 Prozent seiner Bevölkerung.

Es erstaunt also nicht, dass Hell seine Anthologie "Meldung über Gespenster" nennt. So heißt der mit Abstand packendste Text des Buches, der vom erfolgreichsten litauischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts stammt: Ricardas Gavelis, geboren 1950 in Vilnius, gestorben 2002.

"Meldung über Gespenster" ist eine moderne Großinquisitor-Geschichte, in der ein litauischer KGB-Mann sein Unrecht, ja seine verbrecherischen Handlungen einfach nicht begreift: "Das ganze Leben lang suchte ich nach einem Unschuldigen, nach einem Menschen, den ich, wenn ich ihn in meinem Arbeitszimmer zu Gesicht bekam, sofort hätte freilassen können. Schade, ich fand ihn nicht." Hier wird Schritt für Schritt die moralische Verkommenheit enthüllt, die ein verbrecherisches System in den Menschen anrichtet.

Auch die weiteren Geschichten zeigen ein Bild der Zerstörung in Männern, Frauen, Kindern, in der Umwelt. Das Bild gipfelt in dem verzweifeltkomischen Ausruf eines Mannes, dem alles genommen wurde, seine Frau, sein Haus, ja sogar sein einziger Baum: "Irgendetwas haben wir noch! Noch haben wir irgendeine Seele! Wenn auch eine zerrissene und fiebrige."

Dem Übersetzer ist es gelungen, in seiner Sprache verschiedenste Stile nachzubilden: Atemlose, surrealistisch-gespenstische Prosa steht neben kanzleimäßig trockenen, nüchtern-analytischen Erzählungen. Ein Beweis dafür, dass litauische Autoren in einer Aufholjagd derzeit sprachlich alles ausprobieren, vom magischen Realismus bis zu halluzinatorischer Schreibweise.

Inhaltlich zieht sich ein blutroter Faden durch diese Nachrichten vom Rand Europas: Die Schriftsteller, diese Seismographen der Gesellschaft, offenbaren eine noch immer offene und entzündete Wunde in der litauischen Gesellschaft. Jahre der Unterdrückung, des materiellen und seelischen Elends, kann man nicht per Dekret der Unabhängigkeit aus der Welt schaffen.

Die Trinker und Krüppel und Wahnsinnigen, die von den Veränderungen Verängstigten, die Verbitterten findet man nicht in der hell und freundlich gewordenen Hauptstadt; sie führen ihr Gespensterdasein in den Büchern, im Rückblick auf eine Geschichte, die zu lange unter dem Motto stand: Wohin gehst du, Vaterland? Zur Hölle!

Meldung über Gespenster

Erzählungen aus Litauen. Hg. von Cornelius Hell. Otto Müller Verlag, Salzburg 2002. 240 Seiten, geb., e 18,00

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