"Wie eine Verszeile strahlt"

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Tomas Venclova, Litauens größter Dichter, ist 70 und endlich ins Deutsche übersetzt.

Ein litauischer Dichter ist in unseren Breiten immer ein Geheimtipp. Tomas Venclova freilich ist ein internationaler Geheimtipp und fast überall bekannter als im deutschen Sprachraum. Auf Englisch, Polnisch, Russisch, Italienisch, Slowenisch und Ungarisch sind schon längst Auswahlbände seines Werkes erschienen. Von allen litauischen Schriftstellern ist Venclova der internationalste - und wohl der bedeutendste, der heute lebt. Im Vorjahr ist sein großer Essay über Vilnius erschienen, und ab November kann man seine Gedichte endlich auch in einer gültigen Übersetzung auf Deutsch lesen. Kein Geringerer als der Büchnerpreisträger Durs Grünbein hat daran einen wesentlichen Anteil. "Die vorliegenden Gedichte, die man mit gutem Gewissen ein gelungenes Lebenswerk nennen kann, gehören zum Unzeitgemäßesten, was die zeitgenössische europäische Poesie zu bieten hat - und gerade darin besteht ihre Größe", schreibt er im Nachwort des Gedichtbandes, der etwa ein Drittel dieses Lebenswerkes auf Deutsch versammelt.

Eine Ausnahmeerscheinung ist Tomas Venclova schon durch seine Biografie; sie spiegelt sich wider in seine Gedichten, obwohl er das Private, das Erzählerische und erst recht die großen Gefühle strikt meidet. Er ist 1937 in Klaipeda (Memel) geboren und studierte Lituanistik und russische Literatur in Vilnius. Anfangs war er überzeugter Kommunist wie sein Vater, der Schöpfer der Hymne Sowjetlitauens und langjährige Kulturminister, doch die Niederschlagung des Ungarnaufstandes desillusionierte ihn und wurde zum Auslöser seiner ersten Gedichtveröffentlichung im Moskauer Samisdat. Von Anfang an reibt sich seine Lyrik an der totalitären Politik und wird immer wieder zum Gedenken ihrer Opfer.

Poesie und Politik

Etliche Jahre lebte Venclova in Moskau und Leningrad und schlug tiefe Wurzeln in der russischen Literatur; viele seiner Gedichte sind poetische Korrespondenzen mit Ossip Mandelstam, der 1937, in Venclovas Geburtsjahr, in einem Lager bei Wladiwostok umgekommen ist. Venclova schließt an den Klassizismus der russischen Akmeisten an; beim Wort Klassizismus darf man freilich nicht an den Beigeschmack von Erstarrung und Epigonentum denken, den es im Deutschen hat, sondern eher an den Strawinsky der "Pulcinella"-Suite. "Kannst du noch auf den Klassizismus hoffen, / Den Stil, der Fröhlichkeit und Würde lehrt?" fragt Venclova in einem Gedicht.

Venclova ist Boris Pasternak persönlich begegnet, aber noch entscheidender war seine Bekanntschaft mit Anna Achmatowa und die 1966 beginnende lebenslange Freundschaft mit Joseph Brodsky, mit dem er einen intensiven literarischen Dialog entwickelte. Drei Gedichtzyklen Brodskys hängen eng mit seinen Litauen-Aufenthalten und der Beziehung zu Venclova zusammen bzw. sind ihm gewidmet: "Ansichtskarte aus der Stadt K." (die Abkürzung vermeidet die Unterscheidung zwischen Kaliningrad und Königsberg), "Litauisches Divertimento" und "Litauisches Notturno". Umgekehrt sind Venclovas "Der Schild des Achill" und "Karthago nach Jahren" an Brodsky adressiert; der schon in den Titeln ausgedrückte Antike-Bezug ist auch eine Anbindung an Brodskys poetische Welt und jene lyrische Tradition Russlands, aus der sie hervorgegangen ist.

Dialog mit Brodsky

In den späten 1960er Jahren unterrichtet Venclova an der Universität Vilnius und besucht zugleich die Semiotik-Seminare des berühmten Jurij Lotman im estnischen Tartu. Ein Teil seiner Gedichte und Essays kann die Zensur passieren und erscheint in offiziellen Zeitschriften. 1972 wird sogar Venclovas erster Gedichtband "Das Zeichen der Sprache" in Litauen veröffentlicht; vieles kann aber nur im russischen Samisdat erscheinen. Aus den folgenden Verszeilen von 1971 lässt sich erahnen, was Kunst in jenen Zeiten, abseits von jedem Ästhetizismus, bedeutete:

1976 war Venclova Mitbegründer der litauischen Helsinki-Gruppe zur Verteidigung der Menschenrechte. Dadurch war er akut gefährdet, und so vermittelte der bereits 1972 zur Emigration gezwungene Joseph Brodsky den Kontakt zwischen Venclova und Czesaw Miosz, auf dessen Einladung er als Gastlektor nach Berkeley kam.

Durch die Ausreise 1977 entstand Venclovas Gedicht "Scheremetjewo", das mit den Zeilen schließt: "Und fast genau dort erlebte ich, wie eine Verszeile strahlt / Und um Mitternacht Bäume und Schnee erhellt." Von Vilnius hatte er sich schon davor in seiner "Ode an die Stadt" verabschiedet. Bald wurde Venclova zwangsweise ausgebürgert. Im Gedicht "Herbst in Kopenhagen" steht er erstmals auf der anderen Seite der Ostsee und reflektiert: "Nie mehr / nach Hause zurückkehren. Sich verschließen, verschwinden, versinken / in der Festung des Herbstes. Verlieren, was zum Verlieren bestimmt ist, / was du bei dir trägst / vom einstigen Raum."

Seit 1980 arbeitet Venclova am Lehrstuhl für Slawische Literaturen der Yale University, seit 1993 als Professor. Zwei Drittel des Jahres verbringt er in den USA, ein Drittel ist er auf Reisen: jedes Jahr nach Europa, aber es gibt wohl keinen Ort der Welt, der ihn nicht anziehen würde. So hat auch Wien Eingang gefunden in eines seiner Gedichte ("Tu, Felix Austria"). Seit Litauen unabhängig ist, sieht man ihn oft in Vilnius; aber ganz heimisch ist er dort nicht mehr geworden. Trotzdem dichtete er 1996: "Nur diese sandigen und regennassen Hügel / Den so gewundenen hiesigen Barock siehst du, / wenn du den Tod dir vorstellst oder auch den Himmel."

Tomas Venclova hat einen Kulturführer durch Vilnius geschrieben, den man dort in jeder Buchhandlung auch auf Deutsch bekommt. Und für den deutschsprachigen Raum hat er einen Großessay über die Stadt verfasst, der als Suhrkamp Taschenbuch erschienen ist: eine große Erzählung, die von den heidnischen Wäldern bis in die unmittelbare Gegenwart führt und eine wunderbare Balance zwischen historischen Fakten und eigenen Urteilen hält. Wer etwas erfahren will von der Europäischen Kulturhauptstadt 2009 (zusammen mit Linz), kommt um Venclovas Vilnius-Band nicht herum.

Venclova und Vilnius

"Die litauische Hauptstadt ist wie ein Palimpsest, eine mehrmals überschriebene alte Handschrift." Indem Venclova hier den Zentralbegriff des russischen Literaturwissenschaftlers Michail M. Bachtin aufgreift, der seine Jugend in Vilnius verbracht hat und dort zur Schule gegangen ist, sagt er zugleich etwas über das eigene Schreiben aus. Seine Gedichte stehen nicht auf leeren Blättern, dahinter schimmern alte Handschriften durch, Zitate und Anspielungen, die in das eigene Gedicht integriert werden. Litauische, polnische und russische Prätexte sind integriert in diesen intertextuellen Dialog, aber natürlich auch englische, deutsche, französische. Und dahinter schimmert an vielen Stellen die Antike durch.

Es ist Claudia Sinnig und Durs Grünbein, die das Wunder vollbracht haben, diese Gedichte zu übersetzen, nicht hoch genug anzurechnen, dass sie in Anmerkungen und Nachwort dieses Gespräch Venclovas mit vielen Autoren und Texten transparent gemacht haben. Ja, es ist tatsächlich ein Gespräch, kein Prunk mit Zitaten. Der deutsche Lyriker Thomas Kling hat das gespürt, als er 2002 schrieb: "Dem Sightseeing-Gedicht weiß der litauische Odysseus aus dem Weg zu gehen. Angenehm: Ein sentimentgespickter Bildungsprotzer ist er nicht, kein Baedecker-Junkie. Bei jemandem, der weit herumkommt, in einer Zeit des nahezu hysterisch gehetzten Autorennreisens, ist das sehr viel. Dagegen Tomas Venclovas Sprach-Blick zu folgen, lohnt sich."

Nicht Vilnius ist das Zentrum der Welt von Tomas Venclova, sondern die litauische Sprache. Während er seine Essays auch auf Russisch, Polnisch und Englisch schreibt, ist er in den Gedichten bei seiner ersten Muttersprache geblieben. 1998 schrieb er eines über den Stadtteil Uzupis, das Künstlerviertel von Vilnius; sein Ende lautet:

Die Bücher von Tomas Venclova:

VILNIUS

Eine Stadt in Europa

Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig. Mit Fotografien von Ar-unas Balt.enas. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 246 S., kart., € 10,30

GESPRÄCH IM WINTER

Gedichte

Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig und Durs Grünbein. Mit einem Nachwort von Durs Grünbein. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 132 S., geb., € 20,40 (erscheint im November)

Tomas Venclova in Wien:

Ort: Alte Schmiede

Schönlaterngasse 9, 1010 Wien

Zeit: Montag, 26. November, 19 Uhr

Info: www.alte-schmiede.at

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