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Gespräche in der östlichsten Stadt der Europäischen Union über die Tristesse der russischen Minderheit in Estland.

Was tun in einer fremden Stadt, wenn man in einer Winternacht eintrifft und das einzige Hotel geschlossen hat? Nun, man sucht die belebten Viertel zu finden, in der Hoffnung, dort die Nacht eher zu überleben, und gerät dann doch in die finsteren, wo sich alle möglichen Leute hilfreich zeigen, daß es einem wider Erwarten tatsächlich gelingt. Von den Ansiedlungen auf Zypern abgesehen, das die innere Landkarte der allermeisten Europäer allerdings als Insel im Süden, nicht im Osten verzeichnet, ist Narwa nach der Erweiterung der Europäischen Union deren östlichste Stadt. Sie liegt am gleichnamigen Fluß, an deren Ufer der Deutsche Ritterorden einst die gewaltige Hermannsfeste errichtete. Genau gegenüber ließ im 15. Jahrhundert Zar Iwan III. die Festung Iwanogorod erbauen, sodaß sich seither zwei Trutzburgen über dem Fluß gegenüberstehen.

An der Front im II. Weltkrieg

Die Stadt muß einmal schön gewesen sein, in alten Büchern, die sie als "Perle des Ostseebarock" preisen, sind Kirchen, Straßenzüge, Bürgerhäuser und Arbeitersiedlungen beschrieben, die es heute nicht mehr gibt. Im Zweiten Weltkrieg verlief hier die Frontlinie von Wehrmacht und Roter Armee, und Narwa wurde bis auf drei klassizistische Häuser, die wie Mahnmale aus der Gleichförmigkeit rasch hochgezogener realsozialistischer Bauten ragen, vollständig zerstört. Nach 1945 wurde die Stadt im sowjetischen Stil neu errichtet und mit dem gegenüberliegenden Iwanogorod zu einem industriellen Zentrum der UdSSR ausgebaut, das für den Raubbau an der Natur und die enorme Luftverschmutzung berüchtigt war. Die Narwa war für 45 Jahre keine wirkliche Grenze, denn wie es die Planungsbehörden in Moskau verfügten, wurden aus dem Osten Russen nach Narwa übersiedelt, während die industriellen Produkte, die sie erzeugten, großteils den umgekehrten Weg zurück nach Rußland gingen. Als Estland 1991 die Unabhängigkeit errang, lebten in Narwa 70.000 Menschen, von denen 68.000 Russen waren.

Estland wird gerne für den konsequenten Umbau einer Kommandowirtschaft zur liberalen Marktwirtschaft gepriesen. Mehr noch, es steht im Ruf, die Gesellschaft so rigoros modernisiert zu haben, daß das Land etwa bei der Digitalisierung der Verwaltung und dem Zugang zum Internet an vorderster Stelle ganz Europas rangiert. Tallinn liegt nur 80 Kilometer von Helsinki entfernt (von Narwa hingegen 240), und schon befürchten finnische Experten, daß bis zu zwanzig Prozent der jungen finnischen Akademiker und Geschäftsleute in den nächsten Jahren ins estnische Tallinn abwandern werden, weil dort die Lebenshaltungskosten gering und die Aufstiegschancen groß sind.

Estland ist das kleinste Land des Baltikums, aber groß genug, daß darin zwei Welten Platz haben. Was immer man aus Estland an Erfolgsnachrichten zu hören bekommt, für Narwa, die drittgrößte Stadt des Landes, gilt es nicht. Von den 1,4 Millionen Menschen, die auf estnischem Territorium siedeln, sind rund 400.000 russischer Herkunft. Die Staatsbürgerschaft wurde ihnen nach 1991 nur verliehen, wenn sie entweder Vorfahren nachweisen konnten, die bereits in der kurzen Ära des selbständigen estnischen Staates während der Zwischenkriegszeit im Land lebten, oder wenn sie sich einer gestrengen Prüfung ihrer estnischen Sprachkenntnis unterzogen. Die meisten Russen wollten das nicht, und so leben gerade in Narwa Zehntausende, die seit 1. Mai 2004 nominell Bürger der Europäischen Union sind, aber selbst nicht wissen, ob die Vorzüge dieses Status auch für sie gelten, die sie keine estnische Staatsbürgerschaft besitzen, sondern Fremde in einem Land sind, das sie freilich längst für das ihre halten.

Semjon, ein ausgemergelter Mann mit flackerndem Blick, sah aus wie siebzig, aber er war so alt wie ich, um die fünfzig. Nadeshda, seine Tochter, war gewiß schon an die dreißig, aber als Lolita, als albern kicherndes Schulmädchen hergerichtet und so blond, wie es nur Schwarzhaarige sein können, die ihr Haar gebleicht haben. Rätselhafterweise schien der leicht stotternde, pickelige Pjotr der Chef der drei zu sein, er sagte, er sei siebzehn, sah auch so aus und verließ uns immer wieder für kurz, vermutlich um von kleinen Drogenkurieren Geld in Empfang zu nehmen. Ich traf die drei an einem Kiosk, der die ganze Nacht offenhielt, unweit der einzigen Statue Lenins, die in Estland nicht gestürzt wurde und die den Revolutionsführer zeigt, wie er mit ausgestrecktem Arm über den nahen Fluß, hinüber nach Iwanogorod, nach Rußland weist. Dort, ganz nah, unendlich fern, liegt heute ein anderes Land: die "Brücke der Freundschaft", wie sie zu sowjetischen Zeiten genannt wurde, ist zur Grenze geworden. Die eu hebt nämlich nicht nur Grenzen auf, sie schafft auch neue, und diese schneidet mitten durch eine Doppelstadt. Semjon muß ein Visum beantragen, wenn er drüben seine Frau auf dem Friedhof besuchen möchte.

EU schafft neue Grenzen

Mit auftrumpfender Bitterkeit erklärte mir Pjotr, daß Narwa die höchste Rate an Aids-Erkrankten in ganz Europa aufweise. Bei Tageslicht fielen mir am nächsten Morgen die Plakate auf, die überall in der Stadt für den Gebrauch von Kondomen warben; aber mit nationalistischem Eifer plante die Regierung, ihr eigenes gesundheitspolitisches Ziel zu verfehlen, indem sie in dieser russischen Stadt ausnahmslos Plakate in estnischer Sprache affichieren ließ. Nadeshda, die in ihrer dünnen Lederjacke fröstelte und gegen die Kälte heftig an der Zigarette sog, deutete kichernd auf die Nadeln, die in der Umgebung des Kiosks verstreut waren. Während sich die jungen Leute von Tallinn in den Discos mit Ecstasy aufputschen, ist über Narwa das Heroin gekommen. Was kann man machen, was muß geschehen?, fragte ich, aber in Pjotr stand mir einer gegenüber, der sich mit dem Elend, in dem er steckte und in dem die ganze Stadt festzusitzen schien, nicht nur abgefunden hatte, sondern es auch damit zufrieden war, diesem seine geringen Mittel des Fortkommens abzupressen. Er zuckte mit den Schultern, begierig, mir zu zeigen, wie elend das Leben in diesem verfluchten Winkel Europas war, aber zugleich beharrte er darauf, daß keine Besserung möglich sei: ein abgebrühter Bursche und doch ein halbes Kind, das stolz darauf ist, richtig schlimme Sachen anzustellen.

Wohin sollen wir?

Semjon aber, der mir in seinem kalten Rausch etwas von einem leitenden Ingenieur erzählte, der er früher in einem Staatsbetrieb gewesen sei, Semjon, der eine Vergangenheit hatte, glaubte schon, daß Narwa auch eine Zukunft haben könnte. Das erste, was geschehen mußte, war etwas ganz Einfaches: Es genügte, wenn all die wichtigen Leute von Narwa, der Bürgermeister und sein Stellvertreter, die Rektorin der Universität, der Chefredakteur des Rundfunks, die Direktoren der Industriebetriebe, künftig immerhin in Narwa leben würden; sie alle kamen nämlich nur zur Arbeit her, hielten sich von Montag bis Freitag in der Stadt auf, die sie regierten, aber nicht liebten, und fuhren am Wochenende nach Tallinn oder Tartu zurück. So furchtbar ist es bei uns, daß sogar der Bürgermeister seine Stadt flieht, sobald er nur kann! Die feinen Herren und Damen verlassen Narwa, um sich über die freien Tage in der Zivilisation zu erholen - aber wohin sollen wir?

Ich schaute mir die Leute an, die seit Stunden um den häßlichen wie heimeligen Kiosk standen, froren, tranken und sich wärmten, russische Junkies, Prostituierte, Obdachlose, Trinker, die Verkommenen einer Nacht. Unter ihnen gab es keinen, der daran dachte, über den Fluß hinüberzugehen und sich in Rußland anzusiedeln. Sie sind hier, in der Stadt am schwarzen Fluß zu Hause und werden nicht fortziehen, obwohl sie heftig darüber stritten, ob sie, da sie keine Bürger Estlands sind, künftig eigentlich Anspruch haben, sich frei in der Europäischen Union zu bewegen.

Vorabdruck aus dem Buch "Wirtshausgespräche in der

Erweiterungszone", das am 25. 2.

im Otto Müller Verlag erscheint

(90 Seiten + CD, mit Fotos von Kurt Kaindl, e 17,-).

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