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Sozialismus plus Elektronik

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Der 27. Parteikongreß der KPdSU setzt das Siegel zur „Ära Gorbatschow“. Die Mammutrede des Generalsekretärs Michail Gorbatschow, der am Wochenende 55 Jahre alt geworden und immer noch der Jüngste in der sowjetischen Führungsmannschaft ist, markiert den Umbruch in der Gesellschaft, wie er vom selbstbewußten Parteichef ins Auge gefaßt wurde. Wirtschaftliche Reformen werden angegangen, freilich ohne die geringsten Anzeichen, etwas vom ideologischen Ballast abzuwerfen und die Ökonomie von ihren autonomen Fesseln zu befreien.

Uberraschen mag das Ausmaß der Reform, „radikal“ ist diese

höchstens im Angesicht der rückständigen sowjetischen Gegebenheiten. Gorbatschow ist daran, sein Land zu modernisieren und ins hochtechnische Zeitalter einzuführen. Dazu braucht er viel Zeit und noch mehr Geldmittel. Gorbatschow wagt den Sprung in die Moderne, ohne sich des alten, schwerfälligen Apparates zu entledigen und die allmächtige Zentralverwaltung zu beschneiden. Von einer Lockerung der Parteikontrolle ist nichts zu sehen, Liberalisierung bleibt ein Antithe-ma. Was bleibt, kommt einer Umstellung des Mobiliars gleich, will heißen: eine wirkungsvollere und dem Zeitalter angepaßte Ausnützung der Quellen im vorgezeichneten Rahmen des sogenannten

„leninistischen Sozialismus“. Der Kremlherr erstrebt die Anwendung der strenggehüteten dogmatischen Prinzipien auf das Computerzeitalter: „Sozialismus plus Elektronik“, wenn man in Abwandlung des Leninwortes so will.

Neu auf diesem historischen Parteitag ist die Abkehr von den alten, liebgewordenen Selbstbeweihräucherungen, wie sie unter den Vorgängern zum Ritual gehört haben. Neu ist die Selbstkritik, auch wenn diese mehr auf den Chef des letzten Parteitages, Leo-nid Breschnew, abgewälzt worden ist. Der Festredner führte eine vehemente Attacke auf Trägheit und Apathie der 18jährigen Herrschaft Breschnews, die im Zeichen der Konsolidierung und Bewährung gestanden war.

Gorbatschow kritisiert die Mißstände in sowjetischen Betrieben, die Nachlässigkeiten von Ministerien, die in überalterte Ausrüstung investieren, die unzeitgemäßen Methoden des Managements. Stark ist die Rhetorik, doch dünn an konkreten Heilmit-

teln, um die Übel der sowjetischen Wirtschaft zu beseitigen.

Der Mann mit dem großen Rednertalent geißelt die „Absurdität“, daß Löhne für Waren bezahlt würden, die als Ladenhüter vermodern. Qualität ist die erste Forderung in einem Land, wo bisher nur Masse und Quantität der Planerfüllung gezählt haben.

Es bleibt den Parteigenossen im Ehrenabstand zu Gorbatschow überlassen, spezifischer zu werden. Der neue Moskauer Parteichef und Nachfolger des geschaßten Grischin, Boris Jelzin, übertrifft seinen Meister noch in der Verteufelung der bürokratischen Mißstände in der Metropole, ohne damit vor der Partei Halt zu machen: ständige Wiederholung alter Fehler und Wahl von unfähigen Parteibürokraten.

Gaidar Alliew, erster Stellvertretender Ministerpräsident, erläutert auf dem Nebenschauplatz vor der internationalen Presse das neue System qualitativer Verbesserung: Bindung der Arbeitsbonusse an die Güte der Produktion.

In der Außenpolitik schlägt der

„Mann mit dem sanften Lächeln, aber scharfen Gebiß“ (Gromyko über Gorbatschow) arrogante und herausfordernde Töne an, wie sie seit Chruschtschows Zeiten auf einem Kongreß nicht mehr gehört worden sind. „Monopolistischer Totalitarismus“ und „Militarismus — das häßlichste und gefährlichste Monster des 20. Jahrhunderts“ — sind die dem Westen zugedachten Epitheta. Reagan trifft in der Anschauung des Kremlherrn die Schuld, weil er auf Gorbatschows Ansinnen nach stufenweisem Abbau der Nukleararsenale nur lahme Antworten zur Hand habe. Der nächste Gipfel sei in Frage gestellt, wenn der Präsident nicht mehr Willen zeige, zu einem Abkommen in Genf zu gelangen.

Afghanistan darf auf einen Abzug der sowjetischen Schutztruppen hoffen, wenn „Konterrevolution und Imperialismus“, der Einmischung fremder Mächte ein für allemal vorgebeugt wäre. Das KGB wird gerühmt, doch gleichzeitig ruft Gorbatschow zu mehr Wachsamkeit vor „wachsenden Versuchen der Subversion aus dem Westen“ auf, wie es allemal an entscheidenden Ubergängen der Sowjetgesellschaft gefordert worden ist.

Die erneute Zusicherung der Menschenrechte an die Individuen durch Gorbatschow und KGB-Chef Tschebrikow klingt reichlich hohl, wird bedacht, daß Sa-charow im Gorki-Exil brachial behandelt wird, daß dessen Leidensgefährten in Lagern schmachten und Juden auf die Emigration warten.

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