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Krallen eingezogen

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Der russische Bär hat vorerst sein Wutgeheul eingestellt und die Krallen eingezogen. Die scheinbare Friedfertigkeit des roten Meister Petz wirkt Wunder, noch bevor überhaupt erwiesen ist, wie lange er sich in der Weltpolitik ruhig verhält.

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Der russische Bär hat vorerst sein Wutgeheul eingestellt und die Krallen eingezogen. Die scheinbare Friedfertigkeit des roten Meister Petz wirkt Wunder, noch bevor überhaupt erwiesen ist, wie lange er sich in der Weltpolitik ruhig verhält.

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In Genf sind Ost und West übereingekommen, über alles und jedes auf dem weiten Feld der nuklearen Rüstung zu reden, und dies ohne Vorbehalte und Vorbedingungen. Vergeben und vergessen ist, daß Moskau vor 14 Monaten einseitig den Verhandlungstisch verlassen hat, solchermaßen gegen die Stationierung von Marschflugkörpern und Pershing II-Raketen aus Ubersee auf dem europäischen Kontinent protestierend.

Mit der Tatsache konfrontiert, daß Erzfeind Reagan neuerlich vier Jahre im Weißen Haus residiert, und aus der Einsicht heraus, daß mit Säbelrasseln dem Weltfrieden herzlich wenig gedient ist, hat der Kreml seine Taktik geändert. Detente und friedliche Koexistenz der beiden grundverschiedenen Systeme in der Welt werden wieder propagiert, sosehr diese beiden Begriffe in der Vergangenheit durch die sowjetische Interpretation auch in Mißkredit gebracht worden waren.

Parteichef Konstantin Tscher-nenko erhielt sofort einen Anschauungsunterricht, wie bloße Gesten schon auf der ideologischen Gegenseite ein günstigeres Klima schaffen, noch bevor etwas gegeben werden mußte. Sie reden wieder miteinander in Genf. Das allein hat schon so etwas wie eine euphorische Stimmung ausgelöst. Die Kreml-Emissionäre Andrej Gromyko und Michail Gorbatschow zeigen ein freundliches Gesicht und schon ist in der Welt wieder Zuversicht eingekehrt, die alten Spannungen könnten sich doch wieder lösen.

Freilich, es ist nicht alles nur Schau, was der Kreml an Willen zu Entspannung demonstriert. Die Gefahr eines nuklearen und damit selbstzerstörenden Krieges zu reduzieren, ist ein Anliegen, das auch im Kreml lebendig sein muß. Darüber hinaus kann auch eine feindselige Ausdrucksweise das Bestreben nicht verdecken, bessere und liebenswürdigere Beziehungen zur anderen Großmacht herzustellen.

Schließlich sind die kommerziellen und technologischen Kontakte mit dem Westen eine Notwendigkeit, um jene Lücken zu schließen, die eine verschleudernde und ineffiziente eigene Wirtschaft offen läßt. Dahinter steht die Angst der Gewaltigen im Kreml, von der Gegenseite auf technologischem und militärischem Gebiet überspielt zu werden, nicht zuletzt im Weltraum.

Aus welchen Gründen immer, die Entspannungsoffensive des Kreml ist in vollem Gange. Augenfälligster Punkt dieses Werbe-feldzuges bildete bereits die Pu-blic-Relations-Tour von Michail Gorbatschow, seines Zeichens erster Anwärter der jüngeren Generation in der Kreml-Führung auf den höchsten Posten, in Großbritannien im letzten Dezember.

Der Benjamin im Politbüro weckte durch staatsmännisches Auftreten und Umgänglichkeit

Sympathien, ohne daß Handgreifliches und Konkretes in Sachen Ost-West-Beziehung abgefallen wäre. Es spricht für die Wirksamkeit dieser Entspannungswerbung, daß Gorbatschow von einem britischen Parlamentarier als John F. Kennedy des Kreml gepriesen wurde.

Vom Hüter der östlichen Ideologie zu erwarten, daß er auch nur ein Haar breit in seinen Äußerungen von der Parteilinie abwiche, ist Höchstmaß an Naivität. Oder in ihm gar so etwas wie Dissens im Obersten Gremium der UdSSR zu entdecken ist absurd.

In gewohnter Kremlmanier hat auch Gorbatschow alle Vorstellungen wegen Verletzung der Menschenrechte und Entzug der individuellen Freiheiten als Einmischung in die inneren Angelegenheiten vom Tisch gewischt. Der fünfjährige Krieg mit den

Freiheitskämpfern in Afghanistan bleibt ein verbotenes Thema.

Nichts zeigt deutlicher als die Probleme den fundamentalen Unterschied zwischen den beiden Welten. Daran hat sich seit Nikita Chruschtschows Kampagne um „friedliche Koexistenz” und Breschnews Reisen um Detente nichts geändert. Im Gegenteil:

Tschernenko hat klargemacht, daß es um Sacharow, Schtscha-ranski und Co. noch schlimmer bestellt sein könnte, wenn der Westen weiterhin in diese Kerbe schlägt. Kann die Demokratie aber diese Themen wirklich aus dem Dialog ausklammern und sich auf militärische und wirtschaftliche Gebiete beschränken?

In der Wirtschaft fallen übrigens die ersten Ergebnisse ab. Den Briten winkt ein Wirtschaftsvertrag mit dem östlichen Partner, der eine Pfundmilliarde überschreitet. Die Amerikaner geizen nach dem Genfer Treffen nicht mehr mit Krediten für den Osten, der zuletzt darniederliegende Handel mit der Sowjetunion zeigt einen starken Aufwärtstrend.

Tschernenko macht große Anstrengungen, die Wirtschaft effektiver zu gestalten und er folgt damit dem Beispiel des Vorgängers Yuri Andropow. Die Methoden der Ausbildung und des Managements sollen verbessert werden, Techniker und Wirtschaftsexperten dürfen mehr Anreiz erwarten.

Damit arbeitet der Kreml-Chef Gorbatschow in die Hände, der Reformen erstrebt und die Landwirtschaft von den Fesseln der Zentralisation befreien will. Für die Orthodoxen ist solches freilich ein Sakrileg. Bislang hat dogmatische Starre allemal im Kreml gegenüber Vernunft und besserer Einsicht gesiegt.

Die Reformer haben diesmal ein gewichtiges Argument für sich: Die Rüstung hat Grenzen, die durch die Wirtschaft gesetzt werden.

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