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Zurück zur Blockdisziplin

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Der politische Staub, den der Machtwechsel im Kreml aufgewirbelt hat, hat sich schon etwas gesetzt. Dennoch sind die Konturen über das Verhältnis Tschernenkos zu den osteuropäischen Bruderstaaten noch verschwommen. Vorsicht, Nervosität und verklausulierte Wünsche prägen das Bild.

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Der politische Staub, den der Machtwechsel im Kreml aufgewirbelt hat, hat sich schon etwas gesetzt. Dennoch sind die Konturen über das Verhältnis Tschernenkos zu den osteuropäischen Bruderstaaten noch verschwommen. Vorsicht, Nervosität und verklausulierte Wünsche prägen das Bild.

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Der Unterschied war markant: Konstantin Tschernenko empfing nach der Begräbniszeremonie am Roten Platz die Ostblockführer gemeinsam — er saß, flankiert von Außenminister Gromyko und Verteidigungsminister Ustinow auf der einen Seite des Tisches, sie auf der anderen. Tschernenkos Vorgänger Andropow hatte nach der Beisetzung Breschnews die osteuropäischen Vasallen einzeln empfangen.

Ohne die Symbolik überzubewerten: Äußerungen aus Kreisen der ungarischen Delegation, die gezielt nach außen drangen und in dieser Vorgangsweise Tschernenkos eine „Mißachtung nationaler Besonderheiten" und einen Vergatterungsversuch erblickten, sind nicht von der Hand zu weisen. Zumal sie von anderen Indizien durchaus gestützt werden:

Tschernenko hatte in seiner ZK-Rede nach seiner Wahl und auch in seinem Nachruf auf Andropow dreimal das Wort „proletarischer Internationalismus" verwendet — ein Terminus, mit dessen Hilfe seinerzeit Breschnew die bewaffnete Intervention 1968 in der CSSR zu rechtfertigen suchte und der als klare Umschreibung für die beschränkte Souveränität der osteuropäischen Staaten gilt.

Ein unüberhörbarer Hinweis darauf, daß die Führung im Kreml die Bruderstaaten wieder etwas stärker an die Kandare nehmen möchte.

Tatsächlich haben sich ja die Osteuropäer — in unterschiedlicher Intensität — in der Zeit des physisch und politisch siechenden Andropow sanfte emanzipatori-sche Turnübungen zugemutet. An der monolithischen Geschlossenheit des „sozialistischen Friedenslagers" mangelte es in der Frage der Nachrüstung und der östlichen Nach-Nachrüstung doch erheblich.

Vom stets eigenwilligen rumänischen Staats- und Parteichef Ceausescu angefangen über die Ungarn bis hin zur CSSR, deren Premier Strougal zugab, „niemand werde vor Freude springen", wenn jetzt als Antwort auf die US-Raketenstationierung nun auch auf tschechoslowakischem Territorium sowjetische Lenkwaffen aufgestellt würden.

Keine Rede war auch davon, daß die Osteuropäer jene Verei-sungs- und Gesprächsboykott-Politik, wie sie der Kreml gegenüber den USA praktizierte; in „ihrer" Außenpolitik nachvollzogen hätten. Selbst die in außenpolitischer Nibelungentreue Moskau verhaftete DDR ließ den Faden zu Bonn nicht abreißen, Honecker empfing z. B. Kanadas Premier Trudeau. Ungarns Parteichef Ja-nos Kadar begrüßte artig die, früher mit antikommunistischer Kreuzzugsritterrüstung prahlende, britische Regierungschefin Margaret Thatcher in Budapest.

So mag — aus Moskauer Sicht — ein zumindest verbaler Diszipli-nierungsversuch des „Lagers" durchaus Berechtigung haben. Die Ausgangslage der einzelnen osteuropäischen Länder und ihrer bestimmenden Führer oder Machtgruppen in ihrem Verhältnis gegenüber dem neuen Mann im Kreml und den dort herrschenden Fraktionen ist durchaus unterschiedlich.

Tschernenko war derjenige sowjetische Spitzenpolitiker, der sich zwischen 1980 und 1982 am häufigsten und kritischsten zu den polnischen Ereignissen geäußert hat. In zahllosen Reden und Artikeln warnte er vor den verderblichen Beispielsfolgen (auch für die UdSSR) und beschwor geradezu (durchaus im Sinne seiner bisher geäußerten „populistischen" Ideen), daß die Partei sich nicht den Massen entfremden dürfe.

Tschernenko hat auch unterschwellig stets durchblicken lassen, daß ihm die „Militarisierung" der Gesellschaft und politischen Strukturen, wie sie Polens General Jaruzelski auch nach der formellen Aufhebung des Kriegsrechtes weiter betreibt, ein Dorn im ideologischen Auge ist.

Jaruzelski, der sich zu Andro-pows Lebzeiten mit dem sowjetischen KGB- und Militärestablishment verkettet hat (die wichtigsten sowjetischen Besucher in Polen waren 1983 KGB-Chef Tschebrikow und der Warschauer-Pakt-Oberkommandierende, Marschall Kulikow), sieht sich nun offenbar etwas verunsichert. Noch dazu, wo „konservative Sektierer" in der polnischen KP, wie der ehemalige Parteichef von Warschau und jetzige polnische Botschafter in Moskau, Stanislaw Kociolek, der in anonymen Flugschriften Jaruzelski „restaurati-ven Kapitalismus" (!!) vorwirft, gute Verbindungen zur Tscher-nenko-Gruppe im Kreml haben.

Es ist daher bezeichnend, daß in allen offiziellen Adressen Warschaus an den neuen Kremlführer, geradezu beschwörend, dessen „tiefes Verständnis für die polnischen Probleme" hervorgehoben wird — obwohl genau das Gegenteil der Fall ist.

Außer Polen dürfte auch Rumänien — wenngleich mit größerer Gelassenheit — nervös in das „rote Rom" blicken. Das Verhältnis zwischen Andropow und Ceausescu war kühl. Es dürfte sich zu Tschernenko kaum erwärmen. Bukarest hat beim Gromyko-Be-such, wenige Tage vor Andropows Tod, dem sowjetischen Gast klargemacht, daß es seine außenpolitische Narrenkappe innerhalb des sozialistischen Lagers weiterhin tragen will.

Das mag den offenkundig diszi-plinierungswilligen Tschernenko herausfordern. Andererseits muß dem neuen Kremlchef die rigide Parteiherrschaft in Ceausescus Land ideologisch zusagen.

Für Ungarn ist der neue Mann im Kreml eine Unbekannte. Zu Breschnew und Andropow hatte der charmant-umgarnende Janos Kadar gute persönliche Beziehungen; im Falle Tschernenkos fehlt die Intimität. Tschernenko hat niemals öffentlich die ungarischen Experimente gepriesen — im Gegensatz zu seinen Vorgängern.

Aus allen ungarischen Äußerungen der letzten Zeit geht hervor, daß Budapest auf eine Fortsetzung der sowjetischen Wohlwollens-Politik hofft —und daß es bei einer wirklich kollektiven Führung im Kreml bleibt.

Denn sie ist — aus magyarischer Sicht — die einzige Chance, den „eigenen Weg", mehr oder minder unbeeinflußt von einem starken Mann im Kreml, weitergehen Zu können.

Bulgarien, die DDR und die CSSR haben in ihren bisherigen Reaktionen auf den Machtwechsel wenig aufschlußreiches Material darüber geliefert, wie sich die Blockbeziehungen gestalten werden. Gemeinsam ist ihnen die Hoffnung auf „Kontinuität" der sowjetischen Politik, wobei jedes Land in „selektiver Wahrnehmung" etwas anderes für ein Kon-tinuum halten mag.

Die CSSR ist offenbar daran interessiert, daß die ideologische Abgrenzung, die Abschottungspolitik weitergeht; die Bulgaren wiederum, daß der Raum für ihre wirtschaftlichen Experimente nicht enger gesteckt wird lÄid in den internationalen Beziemmgen die „friedliche Koexistenz" weiterhin eine Chance hat.

Die DDR schließlich hat ebenfalls darauf Gewicht gelegt und damit vornehmlich ihr Verhältnis zur Bundesrepublik gemeint.

Aber erst nach Monaten wird eine echte Einschätzung über den Wandel oder die Unveränderlich-keit im sowjetisch-osteuropäischen Verhältnis möglich sein.

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