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Lebensstandard und Ideologie

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Es nützt nichts, wenn der Westen diese Art der ideologischen Kampfführung ablehnt und belächelt. Es nützt nichts, wenn der Westen mehr Kilowattstunden und mehr Traktoren und bessere Flugzeuge hat, doch nicht daran denkt, sie im ideologischen Kampf einzusetzen, sondern sie rein teleologisch betrachtet. Von stürmischem Beifall begleitet, erklärte Chruschtschow am 27. Oktober 1961: „Die Sowjetunion erobert heute im Sturm buchstäblich und bildlich den Himmel und manifestiert mit der Verwirklichung der Ideen des Kommunismus die Überlegenheit der sozialistischen Ordnung über den Kapitalismus.“

Der Lebensstandard in der Sowjetunion ist aufs engste mit der Ideologie verbunden. Man hat dort wie hier Angst, daß die langsam eintretende Prosperität durch einen Krieg wieder verlorengeht; für die Sowjets könnte dies jedoch noch schlimmere Folgen haben, als man gemeiniglich annimmt, denn mit der Prosperität ginge auch die Überzeugung von der Unfehlbarkeit der Ideologie verloren. Der christliche Glaube kann durch solche Umweltserscheinungen keine Einbußen erleiden, da er nicht von materiellen Dingen abhängig ist.

Neben der Erreichung des materiellen Wohlstandes haben die Sowjets einen anderen, entscheidenden Faktor im Auge — den Menschen. Es ist ihnen keine Maßnahme, kein Erziehungsfeldzug zu kostspielig, zu kräfteraubend, wenn sie nur wieder einen Schritt ihrem Ideal des neuen Menschentyps, dem Sowjetmenschen, näherkommen. „Von allen Schätzen, die die sozialistische Ordnung hervorgebracht hat, ist der neue Mensch, der aktive Erbauer des Kommunismus, der größte. Das Sowjetvolk liefert immer neue Beweise dafür, wozu der wirklich freie Mensch der neuen Welt fähig ist“ (Chruschtschow am 17. Oktober). Der Chefredakteur des Regierungsblattes „Iswestija" und Schwiegersohn Chruschtschows, A. I. Adschubej, spricht in seiner Rede vom Gewissen des sowjetischen Menschen, vor dem dieser die volle Verantwortung zu tragen habe. Desgleichen schreibt in einem ausführlichen Artikel die führende sowjetische Zeitschrift „Nowyjmir“ in Nr. 9 1961, S. 235: „Der Sowjetmensch bemüht sich, die Welt mit offenen Augen zu sehen, und ist vor allem vor seinem Gewissen verantwortlich, und nicht vor abstrakten Dogmen…“ Und der Dichter A. T. Twardowskij zitiert Leo Tolstoj, und zwar die Stelle, wo Tolstoj seinen schönsten Helden „die Wahrheit“ nennt. Twardowskij verlangt vom Schriftsteller, daß er „ehrlich und tapfer“ seine eigene Meinung vertrete und seine eigenen Schlüsse ziehe, auch dann, „wenn sie noch nicht in Parteidokumenten und in den Leitartikeln der ,Prawda‘ veröffentlicht wurden“.

Menschen und „Leute“

Diese Blickrichtung „Mensch" ist kein Zufall und nicht neu. Sie ist, im Grunde genommen, bei den Kommunisten schon althergebracht, nur hat sie sich in den ersten Jahren der Revolution in den den Menschen auferlegten Zwangsmaßnahmen geäußert. Die Erziehungsmethoden der ersten 30 Jahre waren meist barbarisch und forderten Millionen von Menschenopfern für das „Glück“ von morgen. Es scheint jetzt manches anders geworden zu sein. Man hat sich auf die Erziehung des Menschen umgestellt. Nach den KZ-Lagern des Nordens scheinen andere Methoden in Mode zu kommen.

Neben der Schule hat es sich so manche öffentliche Unternehmung zur Aufgabe gemacht, erzieherisch zu wirken: Züge und Autobusse ohne Schaffner, Kinos, in denen man keine Billeteure trifft, die Bemühungen der Miliz, höflich zu sein, die allgemeine Erziehungskampagne zu Ordnung und Sauberkeit, all diese Erscheinungen scheinen sich in dieser neuen Richtung zu bewegen.

Wir können jedenfalls feststellen, daß es den Sowjets gelungen ist, die Jugend in ihrer überwältigenden Mehrheit in ihrem Sinne wirksam zu erziehen, und jeder, der in der letzten

Zeit die Sowjetunion mit offenen Augen bereist hat, wird dies bestätigen. Man wird wohl nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß uns die Sowjets ihre größte Überraschung bereiten wollen: den neuen Sowjetmenschen, einen durchaus positiven Menschentyp. Man hält heute den sowjetischen Menschen anscheinend schon für so weit gefestigt, daß man es wagen kann, ihm Nachrichten vorzusetzen, die man vor noch nicht allzu langer Zeit als schädlich für seine politische Ausrichtung gehalten hätte. Nur so kann man die Veröffentlichung des Kennedy-Interviews durch Ad- schubej in der „Iswestija“ und die Nachricht von den Geburtstagsglückwünschen Chruschtschows an Papst Johannes XXIII. werten.

Eine völlig neue Sachlage ist im Entstehen begriffen, es fehlt sogar die

Terminologie, diese Problemstellung zu definieren. Es wirkt grotesk, wenn man diese Situation als gefährlich für uns bezeichnet. Wir müssen dies aber tun, denn sollte es den Sowjets gelingen, den Westen in dieser Richtung zu überflügeln, dann sind sie die Sieger in diesem weltweiten ideologischen Kampfᾠ

Nun hat uns aber die Erfahrung gelehrt, daß jede Situation ihre zwei Seiten hat. Sollten die Sowjets ihren zum Humanismus neigenden Kurs weiterentwickeln, so werden die Kremlleute auch vor neue Probleme gestellt, die nach neuen Lösungen verlangen. Die kommunistische Welt stützt sich auf bestimmte Menschengruppen, in psychologischer wie auch in wirtschaftlicher und soziologischer Hinsicht. Nun ergibt sich die Frage, ob der neue Kurs, der Kurs mit seinem

Zug ins Humanistische, von den alten Kommunisten, die doch meist harte Gegner der bürgerlichen Welt sind, Menschen, die die morsche Welt, ihren Klassenfeind, mit Gewalt vernichten wollen, ob diesen. Leuten der neue Kurs munden wird. Denn diese Menschen singen noch immer mit Alexander Block in seiner Revolutionsdichtung „Die Zwölf“:

Bürger, schließt dte Türen gut, Heute gibt es Raub und Blut. Auf die Keller überall — Lumpenpack hat Karneval!“

Von dieser Warte aus gesehen, ist die Position der Albaner und Chinesen weitaus günstiger, denn hinter ihnen steht der harte, kompromißlose Stalin. Ob sich der Kreml mit dem neuen Kurs durchsetzen wird, wird die weitere Entwicklung zeigen.

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