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Bereits aus dem Beschluß des Zentralkomitees der KP vom April 1982 war herauszulesen, daß Ungarn in gewisser Weise eine Vermittlerrolle zwischen Ost und West spielen will. Seit damals besuchten eine Reihe westlicher Staatsmänner die ungarische Volksrepublik, von Frankreichs Staatspräsident Francois Mitterand über US-Vizepräsident George Bush bis zum deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl. Die Beschlüsse, die das ZK der ungarischen KP danach faßte, haben nichts wesentlich Neues über die außenpolitischen Positionen Budapests gebracht.

Aus dem letzten ZK-Beschluß vom April dieses Jahres aber ist wieder einiges Interessante herauszulesen. „Ungarn betreibt", so heißt es dort, „eine aktive Außenpolitik, um die internationalen Spannungen zu verringern, unterhält Kontakte zu den verantwortlichen Kräften in den Ländern mit anderen gesellschaftlichen Systemen und baut diese Kontakte aus ... Die Unterredungen mit den führenden Politikern der Länder Westeuropas bestätigen, daß der Meinungsaustausch ... zur Verminderung der internationalen Spannungen beitragen kann." Indirekt könnte man aus diesem Satz herauslesen, daß Ungarn die harte Haltung der Sowjetunion und ihr Fernbleiben von gewissen Ost-West-Verhandlungen mißbilligt.

Ungarn ist besonders interessiert an der Entspannungspolitik, weil es weiß, daß die Fortsetzung eines relativ liberalen innenpolitischen Kurses, aber auch die Erweiterung des Außenhandels und der Wirtschaftskooperation mit westlichen Firmen in einer weniger konfliktgeladenen internationalen Lage eher möglich ist. Schließlich ist Ungarns Außenhandelsanteil an der Gesamtproduktion der höchste unter den COMECON-Staaten.

Größte Aufmerksamkeit verdient der Wirtschaftsteil des erst Mitte Mai veröffentlichten ZK-Beschlusses. Dem Text ist zu entnehmen, daß die ungarische KP die Produktionskräfte des Volkes zu mobilisieren beabsichtigt, den erreichten Lebensstandard sichern, ja die Voraussetzungen für dessen Erhöhung in den nächsten Jahren schaffen will. Das Regime ist bereit, zu diesem Zweck so weit wie möglich zu gehen, ohne dabei das bestehende System zu gefährden.

Mehr noch als früher wird das Leistungsprinzip in den Vordergrund gestellt. Die „Gleichmacherei" bei den Löhnen soll zurückgedrängt, Initiative und hervorragende Leistungen sollen noch mehr belohnt werden.

Aber nicht nur die Leistung des einzelnen, sondern auch die der Unternehmen soll finanziell stärker belohnt werden. Rentabilität und Effektivität sollen die Maßstäbe sein und die Firmen deshalb frei über ihr Einkommen verfügen können. Damit ist bezweckt, die Selbständigkeit der Unternehmen zu stärken und den Wettbewerb unter ihnen zu fördern.

Vorgesehen ist auch, daß die Firmen ihre Verbindungen mit der Weltwirtschaft erweitern. Deshalb soll der Kreis jener Firmen, die eine selbständige Außenhandelstätigkeit führen, erhöht werden.

Vielleicht die wichtigste Reform im ZK-Beschluß: Die mittleren und einige Großbetriebe werden in Hinkunft durch den „Unternehmensrat", kleinere Unternehmen durch den gewählten Vorstand geführt. Diese Unternehmensräte setzen sich aus den gewählten Vertretern der Belegschaft, und aus dem Vorstand des Unternehmens (KP, Gewerkschaft, kommunistische Jugendorganisation) zusammen. Der Rat wählt und entläßt den Direktor. Dies hat aber im Einverständnis mit den zuständigen Behörden zu geschehen, sodaß also die Kontrolle durch das Regime letztlich gesichert bleibt.

Dieses System der Unternehmensführung ist insofern neu und auffallend, weil die Firmen bisher hauptsächlich von Direktoren geleitet wurden, die die Regierung im Alleingang eingesetzt hatte. Für die Belegschaft gab es kaum eine Mitsprachemöglichkeit.

Das Regime will nun die Leistung der einzelnen Mitarbeiter steigern, in dem es ihnen eine Art Mitbestimmung zubilligt und durch Beteiligung am Einkommen der Unternehmen materielle Anreize schafft.

Die vorgesehenen Maßnahmen können die Lage in Ungarn weiter verbessern, beschwören aber auch Gefahr herauf, daß sich die bereits in den letzten zehn bis 15 Jahren entstandenen sozialen Ungerechtigkeiten und Spannungen beträchtlich verschärfen. Um dies zu verhindern, wäre es wichtig, den Interessenvertretungen und den Gewerkschaften einen noch größeren Spielraum einzuräumen. Aber darüber ist kein Hinweis in dem ZK-Beschluß zu finden. ,

Auch die Beschlüsse des letzten Gipfeltreffens des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (COME-CON) Mitte Juni in Moskau könnten den ungarischen Reformen Grenzen setzen. Denn der RGW setzt weiterhin darauf, daß das starre System der Planwirtschaft in den Ostblockstaaten erhalten bleibt.

Der Spielraum Ungarns im wirtschaftlichen und außenpolitischen Bereich ist also gezwungenermaßen sehr beschränkt. Und gewiß stimmt vieles an der These, daß Ungarn nur durch die Anpassung an die außenpolitische Linie Moskaus gewisse Möglichkeiten für Reformen im Inneren erlangt hat. Aber nicht dafür allein gewährt die Sowjetunion Ungarn den größten Spielraum im Ostblock. Für die Sowjets ist es ganz einfach günstig, einen Staat in ihrem Machtbereich zu haben, in dem es keine Versorgungsschwierigkeiten gibt.

In Ungarn hat das Leben doch viel mehr Werte als in den anderen Staaten des sowjetischen Einflußbereichs. Hier herrscht auch eine gewisse Liberalität. Und so dient das Land als eine Art östliches Schaufenster für die Welt, in gewisser Weise auch als eine Brücke zwischen Ost und West.

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