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Ungarns Genossen auf Reformkurs

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Ein Bewußtseinswandel hat in Ungarn eingesetzt. Flexibilität in Wirtschaftsdingen ist gefragt. Das Zentralkomitee der Kommunisten setzt auf sozialistische Demokratie.

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Ein Bewußtseinswandel hat in Ungarn eingesetzt. Flexibilität in Wirtschaftsdingen ist gefragt. Das Zentralkomitee der Kommunisten setzt auf sozialistische Demokratie.

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Die Beschlüsse der seit September immer wieder aufgeschobenen und erst jetzt abgehaltenen Sitzung des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei sind mit großem Interesse von der ungarischen Bevölkerung aufgenommen worden. Sicherlich stellt das Dokument keine Sensation dar; manche Formulierungen klingen jedoch stellenweise durchaus bürgerlich. Aus verständlichem Grunde — geht es doch um Probleme, deren Lösung ein aktiveres Zusammenwirken breiter Bevölkerungsteüe notwendig macht.

Die selbstkritischen Töne der sichmit wirtschaftlichen Fragen , befassenden zweitägigen ZK-

Runde haben auch in der Resolution ihren Niederschlag gefunden. Bereits in der Einführung wird festgestellt, daß sich in der Wirtschaft entgegen den Plänen und Erwartungen 1985-86 keine Belebungstendenzen gezeigt hätten; die Ausgaben seien weiterhin höher gewesen als die Einnahmen.

Die Gründe dafür sieht das ZK in erster Linie in den Mängeln des einheimischen Lenkungssystems, im niedrigen Stand der Arbeitsorganisation und erst dann in den ungünstigen Verhältnissen auf dem internationalen Markt.

In diesem Sinne wird ein Katalog von einschneidenden Maßnahmen vorgelegt, dessen wichtigste Punkte die Hebung des technisch-technologischen Standards der Arbeit, Einsparungen und nicht zuletzt die Förderung der Eigeninteressen und Selbständigkeit der Unternehmen beziehungsweise der selektiven Entwicklung sind. Darauf zielt auch der künftige Abbau der staatlichen Dotationen für defizitäre Betriebe ab, denen nunmehr die Auflösung droht.

Die Resolution benutzt hier den Ausdruck „Umgruppierung der Arbeitskräfte und Produktionsmittel“. Damit soll bereits 1987 angefangen werden. Dieser - unter anderem auch mittels Fusionen —

stattfindende Prozeß beinhaltet die Gründung weiterer gemeinsamer Unternehmen mit westlichen Firmen.

Obwohl die in der Hauptarbeitszeit verrichtete Tätigkeit nach wie vor als primär angesehen wird, kommt den vor einigen Jahren auch in den staatlichen Produktionseinheiten zugelassenen privaten Kleinfirmen weiterhin eine wichtige Rolle zu.

Die geplanten Sparmaßnahmen sehen eine konsequent wirksame Verwendung des Arbeitsmaterials (so auch Recycling) und der Arbeitskraft vor — dabei will der Staat selbst mit gutem Beispiel vorangehen.

Beschlossen wurde bereits die Streichung der nicht besetzten Planstellen im öffentlichen Dienst. Die vorgesehenen - vorläufig geringfügigen - Preissteigerungen von Lebensmitteln werden diesmal nicht von sonst auch eher unbedeutenden Gehaltserhöhungen begleitet; selbst Firmen mit Effizienz müssen in Zukunft zu Lohnerhöhungen erst die notwendigen finanziellen Mittel erwirtschaften.

Insgesamt bezweckt der Maßnahmenkatalog „mittels Herstellung des Gleichgewichtes zwischen Produktion, Gehältern und Preisen eine bescheidene Verbesserung der Lebensverhaltnisse und die Stabilisierung des Lebensniveaus“. Von der Industrie wird diesbezüglich im kommenden Jahr ein Produktionszuwachs von zweieinhalb bis drei Prozent erwartet; das Volumen des Nationaleinkommens soll sich um zwei Prozent erhöhen.

Die ZK-Resolution hebt wiederholt die Bedeutung der Arbeitsdisziplin, die Verantwortung der Führungskräfte sowie die Notwendigkeit einer systematischen Kontrolle hervor.

Die Kontrolle, aber auch die Verantwortung für die Durchführung der Beschlüsse wird der Regierung übertragen, die dadurch— im Sinne der jüngsten Parlamentsreform — wieder einmal einen Schritt in den Vordergrund rückt, wobei ihre Lage keineswegs leichter wird als bisher, zumal sie einerseits dem Exekutivkomitee des ZK und andererseits dem Parlament Rechenschaft schuldet, dessen Ausbau zu einem wirksameren Kontrollorgan — allerdings im wirtschaftlich-sozialen Sinne — fortgesetzt werden soll.

Die sogenannte Konsolidierung in Ungarn war erst Mitte der 60er

Jahre zu Ende gegangen; Intro-vertierung, Skepsis und Gleichgültigkeit großer Bevölkerungsteüe bildeten damals das geistige Kapital jener Dogmatiker, die sich erst recht nach dem „Fall Tschechoslowakei“ in Partei, Wirtschaft, Verwaltung und auch im geistigen Leben allen Erneuerungsversuchen widersetzten.

An ihre Stelle sind jedoch mit der Zeit „Genossen“ getreten, die die Vorteüe und Mängel des vorhandenen Gefüges immer skrupelloser für die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen mißbrauchten. Auf sie ist die den verstärkten Schutz des gesellschaftlichen Eigentums beschwörende Passage der Resolution gemünzt.

Die Wirksamkeit des Beschlusses hängt freilich in hohem Maße von der Einstellung der Bevölkerung ab, in der der durchaus berechtigte Ruf nach Straffung der Arbeitsorganisation immer lauter wird. Es ist allerdings eine andere Frage, wie die von den Umgruppierungen Betroffenen nunmehr auf Veränderungen reagieren werden, die eventuell - wenn auch nur vorübergehend — verminderte Verdienstmöglichkeiten beinhalten.

Denn letztlich setzt die Verwirklichung der ZK-Beschlüsse -wie auch die Fortsetzung des Reformwerkes überhaupt — die weitgehende Bereitschaft breiter Schichten für eine aktivere Beteiligung an Entscheidungsprozes-sen voraus. Doch gerade dafür fehlen in Ungarn sowohl die notwendigen Erfahrungen als auch die Institutionen.

Die konsequente Fortführung der Parlamentsreform könnte dazu zweifelsohne einen wichtigen, wenn auch langfristigen Beitrag leisten — denn eine Körperschaft, die jährlich nur viermal für einige Tage zusammentritt, kann ihrer

Aufgabe einer effektiveren Kontrolle wohl kaum gerecht werden, insbesondere wenn sie über Vorlagen zu entscheiden hat, die die Regierung von der Parteiführung in Form von Resolutionen erhält.

Zugleich darf man aber auch nicht aus den Augen verlieren, daß es sich in Ungarn um einen Vorgang handelt, der selbst in Paeikreisen als „Bewußtseinswandel“ beschrieben wird. Und er bedeutet allem Anschein nach auch die Erkenntnis, daß nur eine flexible, den Anforderungen des internationalen Marktes angepaßte Planung und Organisation der Arbeit das meist theorieorientierte Wunschdenken und das untragbar gewordene ständige .Ausbessern“ von dadurch entstandenen Schäden ablösen kann.

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