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In den letzten Wochen und Monaten gab es in Ungarn viele Ereignisse, die Aufmerksamkeit verdienen. Denn sie veranschaulichen die gegenwärtigen Tendenzen in Ungarn, die generell darauf hinauslaufen, durch wirtschaftliche Reformen und durch Anregungen zur politischen Aktivität die Lage der Bevölkerung zu verbessern. Gleichzeitig aber sollen impolitisch-intellektuellenLeben die Zügel gestrafft werden, damit die Entwicklung kontrolliert werden kann und das Regime nicht gefährdet wird.

Das Zentralkomitee der ungarischen KP beschloß bereits im Sommer dieses Jahres, die Wirtschaftsreformen fortzusetzen, die 1968 begonnen wurden, aber 1972 vorübergehend' zurückge schraubt worden sind. Der Schwerpunkt soll nun auf Produktivität und Arbeitsintensität, auf die Material- und Energiesparsamkeit sowie auf die Verbesserung der Produkte gelegt werden. Dementsprechend sollen die Investitionsmittel für Modernisierungen eingesetzt werden.

Um die gesteckten Ziele zu erreichen, will das Regime bei der Besetzung führender Positionen stärker als bisher Fachkenntnisse berücksichtigen. Indirekt gesteht das ZK damit ein, daß bis jetzt die politische Zuverlässigkeit bei Postenvergaben überbewertet worden ist.

Außerdem will man die Unterstützung der Arbeiter und der Intelligenz in den Betrieben gewinnen. Deshalb soll das Einkommen der Betriebe und der Arbeitnehmer stärker nach Leistungen differenziert werden. Aber darauf, wie dies durchgeführt werden soll, enthält der ZK-Beschluß keinen Hinweis.

Eine weitere Neuerung in Ungarn soll werden, daß es bei künftigen Wahlen in jedem Wahlkreis mindestens zwei Kandidaten für einen Parlamentsitz geben soll. Dennoch werden auch in Hinkunft zehn Prozent der Sitze einer Landesliste ohne Gegenkandidat aufgestellt. Zu diesen zehn Prozent zählen sicherlich jene Personen, die das Regime auf jeden Fall im Parlament haben will.

Was zeigt, daß dieses Wahlsystem alles andere als echte Demokratie bringt. Wie das Politbüro- Mitglied Mihäly Korom eindeutig erklärte, haben alle Kandidaten das Programm der Patriotischen Volksfront zu vertreten, also das Programm der Massenorganisation des Landes, die unter der Kontrolle der KP steht.

Ungünstig kann sich darüber hinaus eine andere Verfügung des ZK-Beschlusses ausyirken. Beschlossen wurde, daß ein Kandidat, der mindestens 25 Prozent der Stimmen erhält, automatisch den gewählten Abgeordneten ersetzt, falls dessen Sitz vakant wird. Es gibt also eine Möglichkeit für das Regime, einen unbequemen Abgeordneten durch Druck, oder durch ein ähnliches Mittel, zum Rücktritt zu zwingen und durch einen gefügigeren Politiker zu ersetzen.

Weitere Maßnahmen, die das ZK beschloß: Privatunternehmen sollen künftig sechs, mit Familienmitgliedern zusammen zwölf Mitarbeiter beschäftigen dürfen. Außerdem wird erlaubt, daß Ungarn nun im Ausland als Gastarbeiter tätig werden dürfen. Ungarn ist damit das erste Ostblockland, das dies ermöglicht. Bedingung ist, daß diese Arbeitnehmer 20 Prozent ihres Verdienstes dem ungarischen Staat gegen Forint abliefern, daß sie also Devisen ins Land bringen.

Für die Familien wurde die Erhöhung des Kindergeldes für Familien mit ein oder zwei Kindern bekanntgegeben. Begründung: Die Preise sind seit der letzten Erhöhung des Kindergeldes stark gestiegen, und in den vergangenen zwei Jahren war die Bevölkerungszahl Ungarns rückläufig.

All dies zeigt, daß das ungarische kommunistische Regime versucht, die Wirtschaftsprobleme durch verschiedene Zugeständnisse und Maßnahmen zu meistern. Aus diesem Grunde will Budapest auch seine Kontakte zum Westen ausbauen, wie gerade auch der Besuch des österreichischen Bundeskanzlers Fred Sino- watz vergangene Woche erneut zeigte.

Zugleich ist das Regime aber bestrebt, die Entwicklung im Rahmen zu halten und sein Fortbestehen zu sichern. Deshalb hat es gegen den Dichter und Schriftsteller Sändor Csoöri das Publikationsverbot verhängt und ist gegen die „Dialogus“-Friedens- bewegung vorgegangen. Es gilt, auf die „Empfindlichkeit“ des „großen Bruders“ Rücksicht zu nehmen, denn eine Kritik sowohl der gegenwärtigen als auch vergangenen Politik der Sowjetunion ist weiterhin ein Tabu.

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