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Das „vorgeplante Parlament”

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In der nationalsozialistischen Zeit hat es einen Witz gegeben — und das Buch über den „braunen und roten Witz” druckt ihn neuerlich ab — darnach habe Goebbels vor der Wahl vom 29. März 1936 nächtelang Alpdrücken gehabt aus Angst, daß beim Wahlergebnis 110 Prozent herauskommen. Nach einem anderen Witz hätten die 1936er-Wahlen nicht stattfinden können; bei Goebbels sei 1935 eingebrochen worden und die Wahlergebnisse von 1936 seien gestohlen worden.

Nun, mit geringfügigen Varianten könnte dies für jenes kostspielige Unternehmen gelten, das am 14. Juni in der Tschechoslowakei durchgeführt wurde und das man als „Wahl” bezeichnete. Nun, mit Wahlen hat es ebensoviel oder ebensowenig zu tun wie die seinerzeitigen nationalsozialistischen „Wahlen”. Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß 58 Millionen Stimmzettel in sechs Farben gedruckt wurden. Auch die so gerühmte Wahlbeteiligung von 99,4 Prozent kann keinerlei Barometer darstellen.

Wenige Wochen vorher:

Ein neues Wahlgesetz

Aus Zweckmäßigkeitsgründen hat man gleich mehrere „Wahlen” zusammengefaßt und an einem Sonntag durchgeführt. So wurden neben den 300 Mitgliedern des Prager Parlaments 92 Abgeordnete des slowakischen Nationalrates, 1456 Abgeordnete der Kreisnationalausschüsse (eine Art Mittelding zwischen Landtag und Bezirksausschuß), 10.780 Abgeordnete in die Bezirksnationalausschüsse, 228.587 Abgeordnete in die Ortsnationalausschüsse, schließlich wurden noch 994 Berufsrichter und 29.261 Laienrichter gewählt.

Noch einen Monat vor den Juniwahlen hat das Prager Parlament ein neues Wahlgesetz beschlossen, das die bisherigen Gesetze über die Wahlen zu den Nationalausschüssen aus dem Jahre 1960 und das über die Wahlen zur Nationalversammlung aus dem Jahre 1954 durch ein einheitliches Wahlgesetz ersetzte, das wohl die meisten Bestimmungen der früheren kommunistischen Wahlgesetze wörtlich übernahm, neu aber vor allem die Bestimmungen über die Nominierung der Kandidaten regelte. Nach dem Gesetz können Vorschläge machen: die tschechoslowakische KP, die anderen politischen Parteien und die weiteren Gesellschaftsorganisationen der Nationalen Front, Versammlungen der Arbeiter, Bauern und der übrigen Werktätigen in den Betrieben, Ämtern und Dörfern, aber auch „Versammlun gen der Soldaten” und der Mitglieder der sonstigen bewaffneten Verbände. Die Kandidaten werden nach dem neuen Wahlgesetz für die einzelnen Wahlsprengel vorgeschlagen, und zwar können, den Gegebenheiten nach, für jeden Wahlsprengel ein oder mehrere Kandidaten vorgeschlagen werden.

Gesetzestext — und Wirklichkeit

Paß. .def . so jyąl erscheinende Gesetzestext keineswegs allzu großzügig aüsgelegt würde, dafür sorgte ein Kommentar im”Zentralorgan der tschechoslowakischen KP, dem „Rudė prävo”, das bald alle noch vorhandenen Illusionen zerstörte. Die Zeitung erklärte, daß aus dem Wortlaut des Gesetzes keineswegs hervorgehe, daß die zuständige Wahlkommission der Nationalen Front verpflichtet sei, alle vorgeschlagenen Kandidaten tatsächlich zur Registrierung anzumelden. Die Vorschläge wären lediglich der erste Schritt, ihm müsse eine Auswahl folgen, damit keineswegs nur Kandidaten irgendeines Kollektivs zur Aufstellung kämen, sondern solche Kandidaten, die tatsächlich Kandidaten des ganzen Volkes in ihrem Wahlsprengel seien. Es sei eine völlig irrige Annahme und eine willkürliche Auslegung des neuen Wahlgesetzes, daß alle vorgeschlagenen Kandidaten zu registrieren seien, und daß die Auswahl erst der Wähler am Wahltag zu besorgen habe. Nun, diese Lesermeinung, der das „Rudė prävo” sehr entschieden entgegentritt, ist natürlich nicht aus der Luft gegriffen, denn ein Blick zu den Wahlmethoden anderer Volksdemokratien zeigt, daß auch hier die Tschechoslowakei die Gruppe der Orthodoxen nicht verlassen hat.

Hinkunft zehn Abgeordnete die Ungarn vertreten (deren Anteil an der Gesamtbevölkerung knapp unter drei Prozent liegen dürfte, während sie im Parlament jetzt 3,33 Prozent der Mandate innehaben). Günstiger als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung sind auch die Ukrainer im Parlament vertreten, die zwei Abgeordneten machen 0,66 Prozent aus, während der Bevölkerungsanteil bei 0,53 liegt. Die gleich hohe Mandats zahl hat man auch den verbliebenen Deutschen zugeteilt (und damit 0,66 Prozent der Mandale), deren Bevölkerungsanteil noch bei 1,18 Prozent liegen dürfte. Auch die „slawisohen Brüder”, die Polen, deren Bevölkerungsanteil mit 0,57 Prozent etwas höher als der der Ukrainer liegt, sind mit einem Mandat (0,33 Prozent) schlecht abgespeist worden. Mit der „Brüderlichkeit” ist es also .nicht weit her.

Sowenig im Wahlmodus selbst ein Ventil für die Bevölkerung und den Wähler eingebaut worden war, so sehr hielt man die bisherige Zusammensetzung des Parlaments doch für wenig attraktiv, vielleicht sogar für untragbar. Die „Entstalinisie- rung”, diese so späte Säuberung von Männern, die heute kaum noch als Volksvertreter zumutbar waren, besorgte die KP selbst — und die Nationale Front, also die kaum jemals hervortretende Repräsentanz der am Papier noch existierenden Parteien, mußte dazu natürlich ja sagen —, einmal, weil es sich ja ausschließlich um tschechische KP-Mandatare handelte, und dann, weil man ja von dieser Entwicklung auch einiges erhoffte. Nun, diese Entstalinisierung, die die KP-Spitze ihren Wählern abnahm, hat allerdings ein Ausmaß angenommen, das überraschte: Während sonst von Wahl zu Wahl rund ein Drittel der Abgeordneten aus Altersgründen oder anderen Ursachen ausschied, erreichte der Anteil der jetzt in Prag in die Wüste geschickten Parlamentarier fast die Hälfte; insgesamt sind es 146 Abgeordnete von den 300, die nicht mehr aufgestellt wurden, unter ihnen ganz prominente Namen: Viliam Široky (62), langjähriger Minister, seit 1935 Abgeordneter, zwischen 1953 und 1963 Ministerpräsident; Vladimir Bacilek, früher Mitglied des ZK-Präsidiums; Bruno Köhler (64), Altkommunist deutscher Abstammung und Sekretär des ZK der tschechoslowakischen KP; Julius fiuriš (60), Slowake, Mitglied des ZK und des Präsidiums der tschechoslowakischen KP, zwischen 1951 und 1963 Landwirtschafts- und Finanzminister; Vaclav David (54), seit 1945 Abgeordneter, stellvertretender Vorsitzender der Nationalversammlung, Klubobmann der tschechoslowakischen KP und seit 1953 Außenminister; Ludmila Jankovcovä (67), einst prominente sozialdemokratische Funktionärin, die 1948 bei der kommunistischen Machtübernahme eine entscheidende Rolle gespielt hatte, Abgeordnete seit 1946, später als Mitglied ins ZK der tschechoslowakischen KP kooptiert, seit 1950 Minister, 1954 Stellvertreterin des Ministerpräsidenten. Im übrigen ist ein weiterer früherer Sozialist, Zde- nėk Fierlinger, sichtbar in den Hintergrund geschoben worden. Der langjährige Vorsitzende der Nationalversammlung ist diesmal nicht wiedergewählt worden; an seine Stelle trat Dr. B. Laštovička (59), der in seinem Leben schon sehr viel war: KP-Jugendfunktionär, 1936 Kommandeur der Batterie „Klement Gottwald” im Spanischen Bürgerkrieg, Redakteur, Generaldirektor des Rundfunks, Botschafter in der Sowjetunion, Verteidigungsminister und anderes.

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