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Das Recht mit doppeltem Boden

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DAS SELBSTBESTIMMUNGSRECHT DER VÖLKER IN OSTEUROPA UND CHINA. Herausgegeben von Boris Meissner. Verlag Wissenschaft und Politik, Köln. 237 S. DM 32.—.

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DAS SELBSTBESTIMMUNGSRECHT DER VÖLKER IN OSTEUROPA UND CHINA. Herausgegeben von Boris Meissner. Verlag Wissenschaft und Politik, Köln. 237 S. DM 32.—.

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Gibt es ein Land, wo das Natio- nalitäts- beziehungsweise Minderheitsproblem nicht in dieser oder jener Form existiert? Kaum. Die neuen Staaten der „Entwicklungswelt“ haben ein solches Problem wegen ihrer von den Kolonialherren willkürlich gezogenen Grenzen. In den kapitalistischen Ländern in Euroamerika ist dieses Problem durch die Wiederbelebung des Nationalismus seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre ebenfalls akut geworden. Nach der Theorie des Marxismus-Leninismus ist die Nationalitätsfrage eine Erscheinungsform der Klassenfrage. Eine Unterdrük- kung der Nationalitäten oder Minderheiten ist daher auch eine Art der Klassenunterdrückung. Rein theoretisch soll das erstere Problem in den sozialistischen Ländern eigentlich nicht existieren können. Aber weil die sozialistischen Staaten die vollkommene kommunistische Gesellschaft der höchsten Stufe noch immer nicht erreicht haben, ist ein Klassenunterschied, und somit auch ein Nationalitätenunterschied, vorhanden. Ebenfalls deshalb wird das Selbstbestimmungsrecht der verschiedenen Nationalitäten beziehungsweise Minderheiten in Osteuropa, der UdSSR und Volksrepublik China unter dem Vorwand des revolutionären Klasseninteressen in dieser oder jener Form, bewußt oder unbewußt mißachtet und sogar abgeschafft. Das Selbstbestimmungsrecht, wie alle anderen Rechte, ist an und für sich gar nicht absolut, sondern es wird vielmehr je nach den konkreten Gegebenheiten (zum Beispiel Zeit, Ort, Bedingung usw.) definiert und verwirklicht oder entzogen — durch die jeweiligen Herrenvölker und -klassen sowie durch die ihnen ergebenen und hörigen Juristen. In den sozialistischen Ländern wird dieser Chauvinismus leider oft unter dem Mantel der „Interessen des proletarischen Internationalismus“ verborgen. In diesem Fall wird das Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten oder Minderheiten gleich dem Grundrecht der einzelnen dem „Gewaltrecht der Arbeiter-Bauern“ — in Wirklichkeit der Kommunistischen Partei — untergeordnet. Das Recht wird immer von den politischen Faktoren beeinflußt und bestimmt. Auch wenn das Recht eine anscheinend unabhängige Funktion ausübt, wird es doch unbedingt politischer Natur sein. Ein solcher Zustand ist auch in den sogenannten demokratischen Staaten im Westen vorhanden. Solange es keine absolute Wahrheit gibt (es wird sie nie geben!), kann daher auch kein unabhängiges Recht einschließlich des Selbstbestimmungsrechts existieren. Jedes Recht dient ausschließlich einer bestimmten Klasse oder Nation. Dieser Sammelband der 14 juristischen Aufsätze von zwölf namhaften Rechtswissenschaftlern ist ein sehr spezielles Fachbuch. Manche Beiträge weisen jedoch eine ziemlich starke politische Tendenz auf, besonders hinsichtlich der deutschen Frage, und verlieren dadurch teilweise auch, ihren rechtswissenschaftlichen Wert. Hans Werner Brachts Beitrag behandelt das Selbstbestimmungsrecht der Völker in der sowjetischen Völkerrechtslehre; das Thema selbst besagt schon, daß er sich bemüht hat, den Gesichtspunkt der Sowjetunion besonders hinsichtlich der neugewonnenen Gebiete nach dem zweiten Weltkrieg und ihre Rechtfertigung zu analysieren. Im Georg-Geilkes- Aufsatz wird dieses Recht von sowjetischer innerstaatlicher Seite betrachtet. Dabei muß man feststellen, daß Lenin ein großer Freund der Nationalitäten und Minderheiten Rußlands und aller anderen unterdrückten Völker, besonders der Asiaten, war. Erst unter dem Grusiner Stalin wurde das Großrussentum übertrieben. Die Frage des Selbstbestimmungsrecht in polnischer Sicht ist durch die verschiedenen Ansichten unter den Polen gekennzeichnet und recht verworren, trotz der Bemühung des Autors Alexander Uschakow. Er hat den Schwerpunkt seiner Analyse wahrscheinlich auf die „Klassenseite“ gelegt. Parallel zu den beiden Aufsätzen über die Sowjetunion schreiben Dietrich Frenzke und Lothar Schulz jeweils von außen- und innenpolitischen Hinsichten über das Selbstbestimmungsrecht in der tschechoslowakischen Völkerrechts- und Staatsrechtslehre. Bei den „äußeren“ beziehungsweise völkerrechtlichen Rechtsfragen nimmt natürlich die deutsche Frage den wichtigsten Platz ein. So wie bei den Polen die Frage der Oder-Neiße-Linie und der zurückgewonnenen Gebiete Westpolens, ist für die CSSR die Frage des sogenannten Sudetenlands. Bei den „inneren“ beziehungsweise staatsrechtlichen Rechtsfragen gilt die Slowakei selbstverständlich als Hauptobjekt. Besonders jetzt sind diese Fragen von großer Bedeutung, da trotz der Demokratisierung in der CSSR ohne eine Annullierung des Münchner Abkommens 1938 seitens des Bonner Staates und eine Föderation der Tschechen und Slowaken eine echte Entspannung in Mitteleuropa und somit die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts undenkbar ist. Georg Brunner analysiert dieses Recht in ungarischer Sicht, wobei er sich ebenfalls der deutschen Minderheitsfrage in Ungarn mehr widmet; die Beziehungen zwischen Ungarn und Rumänien wegen der ungarischen Minderheit in Siebenbürgen wurde nicht eingehend behandelt. Erst von Alexander Suga in seinem Beitrag zur Frage des Selbstbestimmungsrechts der Nation in rumänischer Sicht werden die Ungarn neben anderen Minderheiten in Rumänien mit geschichtlicher Entwicklungsmethode untersucht. Die Moldau-Frage wird in seinem Beitrag nur gestreift. Noch eine Parallele zur Sowjetunion und der CSSR, Dietrich Frenzke und Anton Lipowschek schreiben über das Problem des Selbstbestimmungsrechts in Jugoslawien von völkerrechtlicher und innerjugoslawischer Sicht. Der erstere Aufsatz ist fast rein thepretischer Natur, woraus man nicht viel Schlußfolgerung für das praktische Leben in den zwischenstaatlichen Beziehungen ziehen kann. Der zweite Beitrag beleuchtet das Föderationssystem Jugoslawiens unter Tito. Freilich ist das System die beste Lösung der Nationalitätsfrage in Osteuropa, die die CSSR nun ebenfalls nachmachen zu wollen scheint. Dietrich Frenzke, bereits bekannt durch zwei andere Aufsätze in diesem Band, untersucht das Selbstbestimmungsrecht in der bulgarischen Völkerrechtslehre. Da er mehr auf die Seite der „Äußerlichkeit“ schwenkt, wurde das wichtigste Problem Bulgariens bezüglich des Selbstbestimmungsrechts, die Frage der Mazedonier, nicht behandelt, was natürlich eine Unzulänglichkeit bedeutet. Eine stärkere politische Tendenz — wenn man nicht von einer „Einseitigkeit“ sprechen will — weisen die beiden Beiträge über das Selbstbestimmungsrecht von außen- und innenpolitischer Sicht Ostdeutschlands auf. Allein die Titel der Aufsätze mit der Bezeichnung „DDR“ (lies „sogenannte DDR“) zeigen, daß diese heikle Problematik des Selbstbestimmungsrechts durch die Politisierung noch schwieriger lösbar sein wird. Im ersten Werk von Jens Hacker wurde die Frage, ob es eine oder mehrere deutsche Nationen gibt, behandelt. Diese Frage hat in Wirklichkeit nichts mit Selbstbestimmungsrecht zu tun und ist ein Sonderfall, was der Verfasser selbst auch zugibt. Die Sorbenfrage in der DDR wurde von Theodor Veiter sehr ausführlich dargestellt. Die zweimaligen Bemühungen der Sorben, einen eigenen Staat zu gründen, sind gescheitert, weil die Großmächte eben das wahre Selbstbestimmungsrecht der kleineren Völker nicht geachtet haben. Doch die Sorben bleiben eine Sorge für die DDR, denn man kann nicht garantieren, ob die Sorben nicht bei ihrer dritten Bemühung endlich zum Ziel kommen werden. Heinrich Herr- fahrdt und Edgar Tomson setzen sich mit den Nationalitäts- und Minderheitsfragen Chinas auseinander. Herrfahrdt schreibt mehr von historischer Sicht, während Tomson sich mehr an offizielle Zahlen und Daten, die von der Behörde der Volksrepublik China veröffentlicht wurden, stützt. Auf jeden Fall bekommt man den Eindruck: Die Chinesen wollen nichts von einer Föderationsmöglichkeit wissen. Sun Yat-sen selbst ist ein Chauvinist gewesen. Tschiangkaischek erkennt das Vorhandensein der verschiedenen Nationalitäten in China überhaupt nicht an — in seinem Buch „Das Schicksal Chinas“ bezeichnete er diese als „Stämme der Chinesen“ oder „Einwohner mit besonderen Lebensgewohnheiten“. Mao Tse-tung ist nicht viel besser. Er hat die nichtchinesischen Minderheiten nur für seinen Zweck ausgenutzt. Noch 1945 anerkannte er in seinem Buch „Über die Koalitionsregierung“ das Selbstbestimmungsrecht der nichtchinesischen Nationalitäten beziehungsweise Minderheiten. Nach 1949 werden diese Sätze ungeniert einfach durchgestrichen. Die sogenannte nationale Autonomie, die jetzt in China in der Form von Gebietsautonomie durchgeführt wird, dient nur dem Zweck der Sinisierung — ein Beispiel ist die Kwangsi- Tschuang-Autonomregion, wobei ein Gebiet mit einer chinesischen Mehrheit absichtlich der Region zugesprochen wurde, damit die Chinesen dort weiterhin die Mehrheit bilden können. Die Chinesen sind nie auf die Idee gekommen, Ost- turkestan, Innere Mongolei, Tibet, Mandschurei, Formosa und andere nichtchinesische Regionen als autonome Republiken zu gründen und somit das heikelste Problem Chinas zu lösen. Dieses Buch ist für den Leser — auch wenn er ein Laie ist — von großem Nutzen und verleiht ihm einen Überblick über die Theorie und Praxis des Selbstbestimmungsrechts in den kommunistischen Staaten.

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