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Militärische Aspekte der neuen Sowjetverfassung

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Die neue Sowjetverfassung weicht von der alten, der sogenannten „Stalin-Verfassung“, auch in militärischer Hinsicht ab und weist fundamentale Neuerungen auf. Die Teilrepubliken verlieren ihr Formalrecht auf eigene militärische Formationen; der Verteidigungsrat wird zu einer genauer definierten ständigen Institution, die militärischen Vorrechte des Obersten Sowjets werden in bezug auf die Ernennung von Generälen und die Aufstellung militärischer Körperschaften ausgedehnt; die Militärgerichte werden legalisiert.

Die neue „Breschnjew-Verfassung“ enthält vorerst eine allgemeine Würdigung des „historischen Sieges“ im Zweiten Weltkrieg und einen Hinweis auf die derzeitigen und künftigen Aufgaben, die folgendermaßen charakterisiert werden könnten: Stärkung der internationalen Position Rußlands und Erhöhung der „Macht des Sozialismus“, zugleich Unterstützung der „nationalen Befreiungsbewegungen“ in aller Welt. Wie diese Ziele mit dem besonders betonten „Schutz des Weltfriedens und der Demokratie“ in Einklang zu bringen sind, darüber liefert die neue Verfassung keine näheren Auskünfte.

Artikel 31 befaßt sich mit der „Verteidigung des sozialistischen Vaterlandes“. Dazu gehört eine dauernde Kampfbereitschaft, um jeden Aggressor unverzüglich zurücktreiben zu können. Laut Artikel 32 versorgt der Staat die Streitkräfte mit allen nötigen Mitteln, um die Sicherheit und die Verteidigungskapazität der UdSSR zu garantieren. In der Außenpolitik des Atomzeitalters wächst die Wichtigkeit der Verteidigungskapazität. Die Verteidigung wird als „wichtigste Funktion des Staates“ bezeichnet, um so die immer größer werdenden Ausgaben rechtfertigen zu können.

In der alten Verfassung besaßen die Teilrepubliken das eher formale Recht, eigene Militäreinheiten zu unterhalten. In der neuen Verfassung wird dieses Recht aufgehoben. Auch in der Vergangenheit gab es nur Ausnahmefälle: Während des Bürgerkrieges hatten Weißrußland, die Sowjetukraine, Litauen, Lettland, Aserbei- dschan und Georgien eigene nationale Truppen. Aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges sind drei Divisionen der kasachischen Garde, ein estländisches Korps, litauische, lettische, baschkirische, aserbeidschanische, armenische und georgische Divisionen bekannt. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurden in der Ukraine und in Estland „Narkomats“ (Volkskomissariate) und später Verteidigungsministerien eingerichtet, im Jahre 1946 aber wieder aufgelöst. Man wollte in der Zeit der Geburtswehen der Vereinten Nationen den Anschein erwecken, es gebe vier Sowjetstaaten, um Moskau in der UNO auf diese Weise vier Sitze zu sichern, was mit Hilfe eines geschickten diplomatischen Spiels dann auch gelang.

Artikel 119 der neuen Verfassung verleiht dem Präsidium des Obersten Sowjets das Recht, den Verteidi gungsrat zu institutionalisieren und dessen Mitglieder im Amt zu bestätigen. Wie dies genau gehandhabt wird, ist unbekannt. Jedenfalls wird der bisher rätselhafte Verteidigungsrat, an dessen Spitze Marschall Breschnjew steht, legalisiert. Bis Anfang 1976 war die Existenz des Verteidigungsrates unbekannt. Sogar die neue Verfassung schweigt darüber, welche Funktionen diese wichtige Körperschaft eigentlich auszuüben hat. Da der Verteidigungsrat vom Präsidium des Obersten Sowjets gebildet wird, ist anzunehmen, daß es sich um eine Nachfolgeorganisation des „Staatskomitees für Verteidigung“ handelt, das während des „großen Vaterländischen Krieges“ existierte. Um eine Institution auf höchster Ebene also, zu deren Mitgliedern neben dem Verteidigungsminister auch der Vorsitzende des KGB, der Innenminister und andere führende Köpfe der Landesverteidigung gehören. In der „Breschnjew-Verfassung“ ist unmißverständlich angeführt, wer die Zusammensetzung des Verteidigungsrates bestimmt und diesbezüglich Vorschläge zu unterbreiten hat.

Die „Stalin-Verfassung“ schanzte dem Präsidium des Obersten Sowjets das Recht zu, das Oberkommando der Streitkräfte zu ernennen und zu ersetzen. Dieses Recht wurde auch in der „Breschnjew-Verfassung“ beibehalten. Zugleich werden die autoritären Befugnisse des Präsidiums erweitert. Die Ernennung hoher Offiziere, vom Generalmajor und Konteradmiral aufwärts, erfolgt durch das Präsidium. Bis jetzt verlieh das Präsidium des Obersten Sowjets den Rang eines Marschalls aller Waffengattungen oder eines Flottenadmirals und seit November 1974 ernannte es die Armeegeneräle ebenfalls. Alle anderen Ernennungen erfolgten durch den Ministerrat der UdSSR. Die neue Verfassung sichert dem Präsidium, ein weitreichendes Kontrollrecht über den ganzen Generalstab zu. Kein Zweifel also, daß der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets nunmehr einen viel größeren Einfluß auf alle militärischen Angelegenheiten haben wird.

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Ein weiteres Kapitel der neuen Verfassung befaßt sich mit „Gericht und Schiedsspruch“ und enthält Anweisungen für die Reorganisierung der Militär-Gerichtshöfe. Dies ist im übrigen der erste Fall, daß eine solche Regelung verfassungsmäßig erfolgt. Militärische Gerichtshöfe existierten bereits vor der „Stalin-Verfassung“ und auch nachher. Der Kampf gegen „Verräter“ war ja immer eine besondere Herzensangelegenheit des Sowjetstaates und Vollstreckungsorgane waren die militärischen Gerichtshöfe. Artikel 14 der „Breschnjew-Verfassung“ sanktioniert die bestehende Situation und die geübten Praktiken, wenn auch in milderer Formulierung als früher. Die ideologischen Aspekte hiezu sind im Artikel 62 zu finden: „Vaterlandsverrat ist das abscheulichste Verbrechen in den Augen des Volkes.“

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