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Das verborgene Machtzentrum

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Aber der Kreml als Zentrum der politischen Willensbildung der Sowjetunion ist auch noch aus einem anderen Grunde teilweise ein Mythos: die Partei, die ja letztlich das Schicksal dieses Landes bestimmt, es in Wahrheit regiert, residiert nicht im Kreml, sondern außerhalb seiner Mauern, in einem der zahllosen nüchtern-unansehnlichen Hausmonstren der 6-Millio-nen-Stadt Moskau. Doch dadurch ist die Frage aufgeworfen: Von wo aus wird die Sowjetunion nun in Wirklichkeit regiert? Welche politischen Institutionen oder Gremien sind die wirklich entscheidenden, welchen kommt nur mehr eine formale oder technische Bedeutung zu? Welches ist die- .-Struktur des.- politischen Machtapparates der Sowjetunion? Wir wollen versuchen, diese Frage zu beantworten.

Sprechen wir zunächst vom „pays legal“ , das heißt vom Staatsapparat, wie er von der Verfassung vorgeschrieben ist und der laut Verfassung das Land regiert. Bekanntlich stellt der Sowjetstaat eine pyramidenförmige Hierarchie von „Sowjets“ , das heißt von „Räten“ dar, deren unterste Stufe die Dorfräte und deren oberste der „Oberste Sowjet der UdSSR“ ist.

Die Abgeordneten werden alle vier Jahre gewählt, und zwar auf Grund von Einheitslisten, die in den einzelnen Wahlkreisen jeweils nur den Namen eines einzigen Kandidaten tragen. Dabei werden jeweils zwei Kammern bestellt, der sogenannte „Unionssowjet“ (791 Abgeordnete) und der Nationalitätensowjet (672 Abgeordnete). Dieser Oberste Sowjet tritt normalerweise zweimal im Jahre zusammen — unter Stalin konnten allerdings Jahre vergehen, bis er wieder einmal einberufen wurde — und hat laut Verfassung das alleinige Recht, Gesetze zu erlassen, die Regierung zu bilden, den Obersten Gerichtshof zu wählen, Verfassungsänderungen vorzunehmen usw.

Nun tagt der Oberste Sowjet aber nur zweimal im Jahre, so daß also ein Organ vorhanden sein muß, das in der Zwischenzeit die Geschäfte erledigt. Dieses Organ ist das „Präsidium des Obersten Sowjets“ , dem 32 Personen angehören. Es ist laut Verfassung das oberste Staatsorgan in der Sowjetunion. Sein Vorsitzender übt die Funktion eines Staatspräsidenten aus. (Es ist gegenwärtig Anastas Mikojan.) Dem Präsidium des Obersten Sowjets kommen teilweise ähnliche Befugnisse zu wie dem Obersten Sowjet selbst, aber darüber hinaus kann es zum Beispiel eine Mobilmachung anordnen.

Die Exekutive wird auch in dieser Staatsordnung durch einen Ministerrat gebildet, dem ein Ministerpräsident vorsteht. Dieser Ministerrat übt die Funktionen einer Regierung aus und ist dem Obersten Sowjet — dem Parlament — verantwortlich. Soweit die Struktur des „pays legal“ , an der wenig Aufregendes festzustellen ist. Aber diesem ganzen Apparat kommt auch nur eine höchst beschränkte politische Bedeutung zu, und seine eigentliche Bedeutung liegt vielmehr im rein Technischen und Fachlichen. Die politische Willensbildung hingegen erfolgt innerhalb einer ganz anderen Apparatshierarchie, nämlich innerhalb des Apparats der Partei. Man könnte also gewissermaßen von einem durch die Partei gelenkten „pays reel“ sprechen, obgleich die dominierende Stellung der Partei sogar in der Verfassung festgelegt worden ist. Es heißt nämlich in Artikel 126 der Sowjetverfassung von „der Kommunistischen Partei der Sowjetunion,!;,., dal?: diese den leitenden Kern aller Organisationen der Werktätigen, der gesellsohaft-lichen sowie der staatlichen, bildet .

Innerhalb des Parteiapparates spielt das berühmte „Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion“ (abgekürzt: ZK der KPdSU) die Rolle des Parlamentes. Es besteht seit 1961 aus 175 Mitgliedern und 155 Kandidaten, wobei die Kandidaten eine Art Mitgliedernzweiten Ranges und minderen Rechtes sind. Sie gehören zwar dem ZK an, haben aber kein Stimmrecht. Die „Kandidatur“ ist also eine Art Vorbereitungszeit und vorläufige Auszeichnung. Dieses Zentralkomitee stützt sich in seiner Arbeit ebenfalls auf eine Art Verfassung, nämlich das Parteistatut. Seine Rolle ist vorwiegend diejenige eines Diskussionsforums. Die eigentlichen Entscheidungen fallen nicht hier, und unter Stalin kam dem Zentralkomitee kaum eine Bedeutung als Organ der politischen Willensbildung zu, was allein die Tatsache beweist, daß das ZK, soviel man weiß, sozusagen immer einstimmig gutgeheißen hat, was ihm vorgelegt worden war. Unter Chruschtschow allerdings scheint etwas Leben in das ZK gekommen zu sein, und es spricht einiges dafür, daß es gelegentlich sogar selbständige Entscheidungen getroffen und damit an der politischen Willensbildung teilgenommen hat.

Aber auch das ZK tritt — genau wie sein „Gegenspieler“ auf staatlicher Ebene, der Oberste Sowjet —, bloß zwei- bis dreimal im Jahre zusammen. In der Zwischenzeit ist für die Abwicklung der Geschäfte das „Sekretariat des Zentralkomitees“ verantwortlich, das normalerweise aus ungefähr einem Dutzend Mitgliedern besteht. Diesem Sekretariat kommt bereits eine entschieden größere Macht zu, denn es stellt die oberste Stufe der Hierarchie des Parteiapparates dar, also so etwas wie das oberste Verwaltungsorgan der Partei.

Aber über dem Sekretariat des ZK steht noch ein weiteres Organ, das zwar ebenfalls ein Parteiorgan, jedoch insofern vom eigentlichen Parteiapparat unabhängig ist, als es diesem keine Rechenschaft schuldet. Es ist praktisch niemandem verantwortlich. Dieses Organ, früher das „Politbüro“ genannt, ist das „Präsidium des Zentralkomitees der KPdSU“ , und hier endlich sind wir auf das in Wirklichkeit entscheidende Zentrum der politischen Willensbildung in der Sowjetunion gestoßen. Das Präsidium des ZK ist in Wirklichkeit die „Regierung“ des Landes, und der Ministerrat nur ein technisches Gremium, das den Anordnungen nachzuleben hat, die ihm vom Präsidium des ZK über das Sekretariat des ZK erteilt werden. Dies kommt allein schon in der Tendenz zum Ausdruck, eine Personalunion zwischen dem Ministerpräsidenten und dem mächtigsten Mann im Präsidium des ZK herzustellen, wie es in der Ära Chruschtschow der Fall war. (Deshalb meinen manche, die gegenwärtige Zweiteilung Breschriew-Kossygin könne nicht von allzulanger Dauer sein.)

Doch hier muß noch auf eine weitere wichtige Besonderheit hingewiesen werden: Dieser mächtigste Mann im Staate ist seinem Titel und seiner äußeren Funktion nach der „Erste Parteisekretär“ , und dieser gehört also sowohl dem Sekretariat wie dem Präsidium des ZK an. Ein Teil der Mitglieder des Sekretariats des ZK ist immer gleichzeitig auch Mitglied des Präsidiums des ZK, und bei diesen Personen handelt es sich um den Kern der Führungsgruppe in Partei und Staat. Nach dem jüngsten Revirement vom 16. November sind dies Breschnew, Podgorny, Suslow und Scheljepin. Das bedeutet freilich nicht) daß die übrigen Mitglieder des Parteipräsidiums — des Präsidiums des ZK also — notwendig weniger Bedeutung hätten. Außer den Erwähnten gehören heute diesem Präsidium noch an: Ministerpräsident Kossy-gin, „Staatspräsident“ Mikojan (Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets), Schelest, Kirilenko, Schwernik und Poljanski.

Der Artikel 39 des Parteistatuts bestimmt, daß das Präsidium des ZK vom Zentralkomitee gewählt werde. In Wirklichkeit aber erhält das Zentralkomitee von der obersten Parteispitze — und das heißt vom Ersten Parteisekretär — Kandidatenvorschläge, die es in der Regel einstimmig annimmt. Bisher suchte sich noch jeder Erste Parteisekretär, ob er nun Stalin oder Chruschtschow hieß, im Parteipräsidium mit ihm ergebenen Männern zu umgeben. Daß Chruschtschow schließlich von eben diesen Männern gestürzt wurde, widerlegt diese Feststellung nicht, sondern muß als Ergebnis einer Gesinnungsänderung gewertet werden, für die wesentlich Chruschtschows unorthodoxer Regierungsstil verantwortlich zu machen ist, der, ganz abgesehen von dem heute Chruschtschow zugeschriebenen Altersstarrsinn, sogar seinen politischen Freunden unheimlich wurde. Daß Chruschtschow aber gestürzt werden konnte, muß, so unschön die Begleiterscheinungen des Sturzes gewiß waren, doch als Beweis dafür gewertet werden, daß die Zeiten vorbei sind, da der Erste Parteisekretär absolutistisch zu regieren vermochte.

Es wird denn auch viel vom Prinzip der „kollektiven Führung“ innerhalb des Parteipräsidiums gesprochen — man beruft sich dabei auf Gedanken Lenins —, aber man hat es bis heute unterlassen, diesem Prinzip eine Verfassungsgrundlage zu geben. Man sucht sowohl in der Verfassung wie im Parteistatut vergeblich nach verbindlichen Bestimmungen über Rolle, Funktion, Rechte und Pflichten des Ersten Parteisekretärs. In der Praxis sind sowohl seine Macht wie auch die Macht des Präsidiums des ZK immer noch sozusagen unbegrenzt. Zwar achtet man darauf, den Schein zu wahren und die Verfassung zu respektieren — die Russen können sehr formalistisch sein —, indem man die Gesetzgebung und Staatsleitung Oberstem Sowjet und Ministerrat überantwortet, aber in derselben Verfassung steht eben auch jener bereits zitierte Satz, wonach die Partei den „leitenden Kern“ in Staat und Gesellschaft bilde.

Nun hat der XXII. Parteitag der KPdSU im Jahre 1961 allerdings einen Versuch unternommen, durch das damals verabschiedete neue Parteistatut die Wahl der Spitzengremien etwas demokratischer zu gestalten. So sollen alle vier Jahre, wenn das Präsidium des ZK neu gewählt werden muß, ein Viertel der bisherigen Mitglieder durch neue ersetzt werden. Auch soll einer in der Regel nicht länger als drei Wahlperioden lang — also 12 Jahre lang — im Parteipräsidium sitzen. Aber man blieb im Demokratisierungsanlauf bald einmal stecken, denn diese Bestimmung wurde sogleich wieder eingeschränkt durch eine andere, wonach dies alles nicht für Mitglieder des Parteipräsidiums gelte, die sich durch anerkannte Autorität und besondere Fähigkeiten ausgezeichnet hätten. Würden solche Persönlichkeiten in geheimer Abstimmung mindestens drei Viertel der Stimmen erhalten, könnten sie über die vorgesehene Periode hinaus wiedergewählt werden. Man hat dies damals allgemein als einen — an sich legitimen — Versuch gewertet, dem jeweiligen Ersten Mann im Staate die Möglichkeit zu erhalten, unbeschränkte Zeit am Ruder zu bleiben.

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