"Kosmopolit" hieß bei Stalin Jude

19451960198020002020

Ein Schriftsteller ging in den KGB-Archiven dem Schicksal eines Freundes nach und klärte das Motiv für Stalins letzten Massenmord: Antisemitismus. primitivster Art

19451960198020002020

Ein Schriftsteller ging in den KGB-Archiven dem Schicksal eines Freundes nach und klärte das Motiv für Stalins letzten Massenmord: Antisemitismus. primitivster Art

Werbung
Werbung
Werbung

Sowjetische Ärzte der Spionage gegen die Sowjetunion beschuldigt, Kreml-Ärzte sollen Stalin nach dem Leben getrachtet haben - so und ähnlich lauteten 1952 die Schlagzeilen. Die Nachricht wirkte wie ein Schock - trotz der Massenmorde an den selbständigen Bauern, trotz der Ausrottung der bürgerlichen Eliten, trotz der Beseitigung der Führungsgarde Lenins, trotz des Blutbades im Offizierskorps. All diese Massenmorde hatte Stalin vor 1941 begangen. Nach dem "großen vaterländischen Krieg" hatte er sich das Image des gestrengen, doch gerechten Landesvaters aufgebaut. Nicht wenige Menschen im Westen hatten es ihm wohlwollend abgenommen.

Nun ging der Judenhasser systematisch gegen die Juden vor. Die Juden waren Kosmopoliten, Weltbürger. Jeder Kosmopolit war ein Feind. Die Verfolgung der Ärzte war nur der Höhepunkt einer Kampagne, die bereits in der Nacht auf den 13. Jänner 1948 mit der Ermordung des Schauspielers Salomon Michoels begonnen hatte. Michoels war Leiter des Staatlichen Jüdischen Theaters in Moskau und des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAFK), hatte im Krieg eine monatelange Propagandareise in die USA unternommen und hätte sich gut als geständiger Angeklagter geeignet. Doch schätzte man ihn zu Recht als jemanden ein, der nicht zu brechen war. Daher wurde er durch einen fingierten Autounfall beseitigt.

Nach Stalins Tod im März 1953 wurde eine Untersuchung eingeleitet. Geheimdienstchef Berija versuchte vergeblich, einige Köpfe rollen zu lassen, um den eigenen zu retten. Doch viele Einzelheiten der letzten großen "Säuberung" Stalins konnten erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufgeklärt werden.

Alexander Borschtschagowski ging an die Arbeit in den bis dahin unzugänglichen Archiven. Der 1913 in der Ukraine geborene, selbst als "bösartiger Kosmopolit" verfolgte Dramatiker und Prosaautor ging dem Schicksal seines Freundes Michoels nach. Der Fall erwies sich als Schlüssel zum Gesamtkomplex der Judenverfolgung in Stalins letzten Lebensjahren. Nun liegt sein Buch "Obvinjaecja krov" auch deutsch vor: "Orden für einen Mord - Die Judenverfolgung unter Stalin" (Propyläen Verlag, Berlin 1997, 472 Seiten).

Borschtschagowski ist weder Historiker noch routinierter Sachbuchautor. Dafür aber ein hochmotivierter Spurensucher. Kompakter hat wohl noch niemand die spätstalinistische Judenverfolgung dargestellt. Wir können hier nur einige Schicksale, die er darstellt, herausgreifen und das Fazit seines Buches wiedergeben.

Keinem der jüdischen Ärzte, Schauspieler und Wissenschaftler konnte das Geringste nachgewiesen werden. Sie wurden ausschließlich deshalb gefoltert, zur Verleumdung anderer gezwungen, verurteilt, erschossen oder in die Lager verschickt, weil sie Juden waren und ihre Herkunft nicht verleugneten. Stalin war der Prototyp des an die Macht gelangten, seine Vorurteile niemals hinterfragenden, Haß und Neid ungehemmt auslebenden kleinen Antisemiten. Spätestens der alte Stalin war paranoid. Er hatte außerdem sadistische Neigungen und liebte es, Menschen erniedrigt zu sehen.

Die Gefangenen wurden beschimpft ("Grindkopf", "Judenfratze", "Judensau"). Wer nicht bereit war, seine "Verbrechen" zuzugeben, Unschuldige zu belasten und von A bis Z erdichtete Protokolle zu unterschreiben, wurde gefoltert ("physische Einwirkungsmethoden" nannten es die Ermittler), ohne Essen gelassen und in nackte, kalte Betonzellen gesperrt. Wer sich "kooperativ" verhielt, ersparte sich physische Qualen, selten den Tod. Auch der besonders "kooperative" Lyriker, Dramatiker und Journalist Izik Fefer, der alles erzählte, was man von ihm hören wollte, jeden denunzierte, den die Ermittler vernichten wollten und alles unterschrieb, wurde am 12. August 1952 erschossen.

Oft genug nannte ein Verhafteter unter der Folter den erstbesten Namen, der ihm einfiel. Dem Wirtschaftswissenschaftler Isaak Jossifowitsch Goldstein fiel der Name des Historikers Sachar Grigorjewitsch Grünberg ein. Er "gestand", Grünberg habe gefragt, wie Stalins Tochter Swetlana und ihr jüdischer Mann (dessen Namen er nicht einmal genau kannte) lebten. Grünberg starb im Gefängnis an den Folgen der Mißhandlungen, Goldstein kam mit 25 Jahren Lagerhaft davon.

Boris Abramowitsch Schimeliowitsch, der in drei Jahrzehnten hunderte junge Ärzte ausgebildet hatte, war, ebenso wie Michoels, nicht zu brechen. Der Direktor der Moskauer Botkin-Klinik hatte zwar unter der Folter - bei der er so zugerichtet worden war, daß seine Unterschrift kaum zu erkennen ist - ein Geständnis unterzeichnet, dieses aber in einem persönlichen Brief an Stalin und sodann vor Gericht in allen Punkten widerrufen. Michail D. Rjumin, einer der übelsten Antisemiten in der Staatssicherheit, gab nach Stalins Tod an, Schimeliowitsch sei, als Rjumin die Untersuchung übernahm, "einen Monat lang heftig geschlagen worden", so daß er "zu den ersten Verhören buchstäblich in mein Zimmer getragen werden mußte". Schimeliowitsch wurde zum Tod verurteilt und am 12. August 1952 erschossen; nach Stalins Tod wurde auch Rjumin verurteilt und hingerichtet.

Mitunter ging man subtil vor. John le Carre könnte es für einen seiner Agentenromane ersonnen haben: Der Ende Dezember 1948 verhaftete jüdische Schauspieler Weniamin Lwowitsch Suskin wurde mit Gunstbeweisen überhäuft. Nachdem er unter Drohungen erpreßt worden war, Polina Semjonowna Shemtschushina, die jüdische Frau Wjatscheslaw Molotows, zu belasten, bekam er Bettwäsche zum Wechseln, Geld "aus einem Sonderfonds", um sich Lebensmittel, Obst und Papirossy (Zigaretten) zu kaufen und jedes gewünschte Buch aus der Gefängnisbibliothek. Dies war aber nicht als vordergründige Belohnung für den vollbrachten oder als Bestechung für künftigen Verrat gedacht, sondern als Methode, dem empfindsamen, von Skrupeln geplagten Schauspieler Selbstvorwürfe und Gewissensqualen zu bereiten, die schließlich, genau wie geplant, tatsächlich zum völligen Zusammenbruch führten und ihn zu Wachs in der Hand der Ermittler machten.

Auch Suskin wurde am 12. August 1952 erschossen. Vorher hatte er einige Zeit einen ehemaligen Minister der Sowjetrepublik Kabardinien, Generalmajor Beshanow, als Zellengenossen, der die Geschichte Suskins niederschrieb. Er schickte sie nach der Verhaftung Abakumows an dessen Nachfolger, der sie zu den Akten gab, wo sie noch heute liegt.

Viktor Semjonowitsch Abakumow war Minister für Staatssicherheit. Seine Verhaftung im Jahr 1951 verdankte er wohl vor allem der Tatsache, daß er keinen einzigen handfesten Beweis gegen die Beschuldigten herbeischaffen konnte, und Stalin damit rechnen mußte, daß ein Teil von ihnen die Geständnisse sowie die belastenden Aussagen gegen andere zurückziehen werde. Darum fiel der von Stalin geplante Schauprozeß gegen das JAFK flach. Aber auch, daß Abakumow dem Ermittler Lichatschow gestattet hatte, die erkrankte Shemtschushina - auf deren Bitte - in ihrer Zelle aufzusuchen, wurde ihm von Stalin verübelt. Er zitierte ihn "in derselben Nacht ... zu sich und beschimpfte ihn in gröbster Weise, nannte ihn einen ,Verräter' einen ,käuflichen Lumpen' und einen ,Diener zweier Herren'". Abakumow wurde verhaftet und nach Stalins Tod verurteilt und erschossen.

Molotows Frau kam mit der Verschickung ins Lager davon. Ein besonderes Entgegenkommen Stalins, zugleich eine weitere Demütigung seines getreuesten Dieners, mit der Molotow der letzte allfällige Rest eigenen Willens abgekauft wurde, den er freilich sowieso längst nicht mehr hatte. Im Fall Shemtschushina werden - wie in kaum einem anderen - Stalins Obsessionen, seine Charak-tereigenschaften und Methoden erkennbar. Sein notorisches Mißtrauen, seine Rachsucht, das intellektuelle Unterlegenheitsgefühl des ungeschlachten Georgiers gegenüber den jüdischen Intellektuellen und Künstlern sowie seine Neigung, Menschen seiner engsten Umgebung zu beherrschen, willenlos zu machen und zu erniedrigen, erzeugten das genaue Gegenteil jener Haltung, die sich im berühmt-berüchtigten Satz des Urwienerischen Ur-Antisemiten Lueger ausdrückt: "Wer a Jud is, bestimm ich!" Stalins Umgebung anzugehören, bedeutete nicht Schutz, sondern besondere Gefährdung.

Shemtschushina war Jüdin, hatte vorsichtig - aber offenbar nicht vorsichtig genug - eine eigene Meinung geäußert. Verwandte von ihr hatten dasselbe getan, und bei der Trauerfeier für den "verunglückten" Michoels hatte sie eine Bemerkung gemacht, es könnte sich um einen Mord gehandelt haben. Als die "Ermittlungen" stockten, wurden in der Lubjanka zwei ihrer ehemaligen Untergebenen durch "physische Einwirkung" zur Aussage gezwungen, sie hätten mit ihr ein Verhältnis gehabt. Bei der Gegenüberstellung gaben sie auswendig gelernte erlogene sexuelle Intimitäten preis. Als sie in Tränen ausbrach, flüsterte ein Ermittler dem anderen zu: "Da werden sie ja was zu lachen haben im Politbüro!" Borschtschagowski: "Die familiären Verhältnisse Shemtschu-shinas schlossen jede Eigenmächtigkeit aus. Die Idee zu der geschmacklosen Inszenierung stammte zweifellos von niemand anderem als Stalin selbst."

Außer den schon Genannten wurden am 12. August 1952 auch der Erzähler und Dramatiker Dowid Bergelson, der Lyriker Dowid Hofstein, der Historiker Jossif Jusefowitsch, der Lyriker und Kinderbuchautor Leib Kwitko, der Historiker Solomon Losowski, der Lyriker, Romancier und Dramatiker Perez Markisch, der Journalist und Übersetzer Leon Talmi, die jüdische Mitarbeiterin des Sowinformbüros Emilia Teumin und die Lektorin Haika Watenberg-Ostrowskaja erschossen.

Niemand kam so billig davon wie die Physiologin Lina Stern, die Abakumow mit dem Satz "Ach, du altes Hurenstück!" begrüßt und die geantwortet hatte: "So spricht ein Minister mit einem Akademiemitglied!" Lina Stern "mit ihrer würdevollen Art, ihrer Ruhe, ihrem unverkennbaren jüdischen Akzent, ihrer herausfordernden Direktheit bei der Beantwortung von Fragen, ihrer Häßlichkeit war ein rotes Tuch für Judenhasser ... die Kühnheit ihrer Ansichten über eine der Politik und erst recht einem ,Klassenstandpunkt' sich entziehende Wissenschaft, ihre Lobeshymnen auf das Althebräische, die Bibel, die nationalen Eigenheiten der Juden - für all das schien härteste Bestrafung unausweichlich. Und plötzlich: dreieinhalb Jahre Gefängnis, die bereits abgesessen waren."

Der Autor bietet dafür eine verblüffende Erklärung an. Es wurde gemunkelt, Lina Stern sei der Verlangsamung des Alterns, der Verlängerung des menschlichen Lebens auf der Spur. Daß Stalin zunehmend von Todesangst gepackt wurde, geht aus einigen Quellen hervor. Einmal mehr, meint Borschtschagowski, sei nicht Barmherzigkeit, sondern Egoismus seine Triebfeder gewesen.

Orden für einen Mord. Die Judenverfolgung unter Stalin.

Von Alexander Borschtschagowski. Propyläen Verlag, Berlin 1997.

472 Seiten, geb., öS 496,

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung