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Die Welt des Ilja Ehrenburg

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MENSCHEN - JAHRE - LEBEN. Autobiographic von ja Ehrenburg. Deutsch von Alexander Kaempfe. Kindler-Verlag, München, 1962. 824 Seiten, Ganzleinen. Preis 208 S.

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MENSCHEN - JAHRE - LEBEN. Autobiographic von ja Ehrenburg. Deutsch von Alexander Kaempfe. Kindler-Verlag, München, 1962. 824 Seiten, Ganzleinen. Preis 208 S.

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Die nach dem Krieg aufgewachsene Generation weiß über den jetzt 71jährigen sowjetischen Schriftsteller Ilja Ehrenburg sehr wenig. Sie kennt seinen in den fünfziger Jahren veröffentlichten politischen Kolportageroman „Die n eun t e Wo ge“, in dem gezeigt wird, was für böse Menschen die amerikanischen Kriegstreiber sind and was für gute und edle Menschen die kommunistischen Friedenskämpfer und alle jene, die mit ihnen Friedenskongresse abhalten.- Nachdem Chruschtschow auf dem 20. Parteitag das Stalin-Idol demoliert hatte, kam Ehrenburgs „Tauwetter“ heraus. Da aber die Demolierung noch nicht offiziell und der Chruschtschow-Bericht noch ein Teil des internen Kampfes gegen die Stalinisten in den kommunistischen Parteien war und deshalb über das amerikanische State Department veröffentlicht werden mußte, war der negative Held und Schuldige am Personenkult in Ehrenburgs „Tauwetter“ kein Parteifunktionär sondern nur ein Betriebsmanager.

In der jetzt erschienenen Autobiographie Ehrenburgs leuchten Züge eines Ehrenburg auf, den die jüngere Generation nicht kennt, wohl aber die ältere der zwanziger und dreißiger Jahre, insbesondere die Linke. Abgesehen von einem frühen Debüt mit seither längst verschollenen und vergessenen Gedichten katholisch-mystischer Färbung hat Ehrenburg in jenen Jahren eine Anzahl von Romanen veröffentlicht, die sich in folgende Klassen einteilen lassen: Romane abenteuerlich-satirischen Inhalts wie „Julio Jurenito“ (Geschichte eines philosophischen Provokateurs), „Loi-sik Roitschwantz“ (Abenteuer eines kleinen jüdischen „Luftmenschen“ und Eulenspiegels auf seiner Wanderung durch Nachkriegseuropa — Ehrenburgs bestes und echtestes Buch), „Trust DE“, eine utopische Warnung vor einem kapitalistischen Übermonopol, „Michael Lykow“ (Untergang eines Ichmenschen im revolutionären Rußland) und „Die Liebe der Jeanne Ney“ (eine sentimentale Emigrantengeschichte). Danach ging Ehrenburg zu sozial- und wirtschaftskritischen Großreportagen über, wie „Die Traumfabrik“ (über die Filmindustrie), „Leben der Autos“ und andere; dann kamen historische Reportagen, wie „Die Verschwörung der Gleichen“ (über Gracchus Baboeuf) und „13 Pfeifen“, sowie ein politisch-sozialkritisches Reisebuch über Spanien, das in die Zeit nach dem Zusammenbruch der Monarchie, in die erst* „bürgerliche“ Republik, fiel.

Ehrenburgs Reportagebücher waren zügig, beißend, antikapitalistisch. In ihnen wurden anonyme marxistische negative Begriffe, wie Kapitalismus and Imperalismus, durch einzelne kapitalistische Ausnahmefiguren, wie den Zündholzkönig Kreuger oder Churchill oder Sir Henry Deterding, personalisiert. Ehrenbarg besaß nie den gemütlichen Prager Humor des bei aller Sozialkritik weitaas menschlicheren Egon Erwin Kisch. Doch es war eine böse Zeit, und so tragen Ehrenburgs Bücher dazu bei, die rabiaten Linken jener Zeit noch rabiater und linker und wahrscheinlich auch die Zeit böser zu machen. Lange vermied Ehrenbarg, über die Sowjetunion za schreiben, bis es schließlich nicht mehr recht zu umgehen war. Er fuhr auf einige Zeit in die Sowjetheimat und schrieb dort „Moskau glaubt nicht an Tränen“ und „Ohne Atempause“. Die Titel sagen bereits genug über den Charakter der Bücher aus. Es waren verhältnismäßig ungeschminkte Schilderungen des opfervollen industriellen Aufbaues der Sowjetunion in einer Zeit, in der — Wenigstens für die Öffentlichkeit — der revolutionäre Elan der Jugend und des Kaders noch nicht durch den Terror und wirtschaftliche Privilegien der eigenen Führung gebrochen worden war. Dennoch zog es Ehrenburg wieder in den Westen zurück: vielleicht ließ man ihn deshalb dorthin, weil seine Sophistik dort verwertbarer war als in Rußland.

Die entscheidende Zäsur in Ehrenburgs Leben und Arbeit, er nennt es in seiner Autobiographie: „Anstatt des bisherigen, mit den Idealen des 19. Jahrhunderts ererbten Respektes vor der Respektlosigkeit za lernen, mit zusammengebissenen Zähnen zu leben“, fällt in sein 46. Lebensjahr. Das aber war das Jahr 1937, in dem die großen Säuberungen in Rußland begannen. Das war, als Ehrenburg in Spanien während des Bürgerkrieges als Berichterstatter der „Prawda“ weilte. Derlei Konsignierungen, ja noch viel bedeutendere, retteten jedoch manchen der damals in Spanien agierenden Russen nicht das Leben. So wurde Ehrenburgs Istwestja-Kol-lege, K o 1 z e w, der an der Organisierung der Verteidigung Madrids in bedeutender Weise beteiligt gewesen war, in die Heimat abberufen und dort umgebracht. Er war als festgelegter Antifaschist in einer Periode beginnender Kontakte mit Hitler antragbar geworden. Ehrenburg erwies sich als anpassungsfähiger: Am 17. Juni 1938, im Zeichen der von der Sowjetunion unter dem Titel „Spanien den Spaniern“ verkündeten Bereitschaft zur Zurückziehung der russischen Hilfe and der internationalen Freiwilligen, reichte Ehrenbarg in einem Prawda-Artikel der „Phalange“, die er nunmehr als „spanische Patrioten“ bezeichnete, die „Versöhnungshand“ entgegen. Damit etablierte er sich als verläßlich in jener für das Überleben so entscheidenden Zeit. Seine diesbezügliche romantische Bemerkung in der Autobiographie trifft demnach kaum zu: „Viele meiner Zeitgenossen kamen unter die Räder der Zeit. Ich blieb am Leben, nicht weil ich stärker oder scharfäugiger gewesen wäre, sondern eher deshalb, weil es Zeiten gibt, da das Schicksal eines Menschen nicht einer Schachpartie, sondern einem Lottcri%spiel gleicht.“ Stalin war aber nicht-der Mann, irgend etwas dem Zufall zu überlassen.

So zeigte Ehrenburg in seinem nächsten Buch, das während des Krieges herauskam, im „Fall von Paris“, bereits nichts mehr von kosmopolitischer Sophistik und inneren Vorbehalten sondern die volle Beherrschung der für jene Periode so erforderlichen Technik, halbe Tatsachen und halbe Wahrheiten zum höheren Ruhm des Stalinismus darzustellen und die übrigen, unangenehm, zu unterschlagen.

Und wie verhält sich das nun mit der neuen, „liberalen“ Ära? Zweifellos wäre selbst der so wendige Ehrenburg in Stalins Zeit nicht imstande gewesen, einen Band von 824 Seiten mit Erinnerungen herauszugeben, wenn solche überhaupt. Sie handeln von Menschen und auch von Fragen, die damals tabu gewesen sind. Doch was immer er nun ausspricht: er tut es noch immer nicht, weil es ihm das eigene Gewissen, sondern das Politbüro und die Verhältnisse and Erfordernisse der neuen Ära gestatten. Und er hält sich peinlich an den nunmehr geltenden Kanon. Er scheint genau Buch zu führen, wen und in welchem Ausmaß das Führungsgremium rehabilitiert hat. Uber Babel etwa, oder Meierhold kann schon recht viel erzählt werden, wenn Ehrenbarg sich auch hütet, ihre Mörder, wie die anderer Opfer, beim Namen zu nennen; er bedient sich lieber taktvoller Umschreibungen: „Ich sah ihn nicht wieder“, „Er verschwand“, „Feinde haben ihn auf dem Gewissen“. Andere Namen kann man gerade noch erwähnen, doch ohne Einschätzung and Würdigung:

Achmatowa, SostscHenko, Kolzow, Trotzky und andere werden besser vorläufig überhaupt nicht genannt. Auch gelingt es ihm wunderbar, den Namen Ungarn zu vermeiden, wenn er über Picassos Treue sagt: „Nichts konnte sein Vertrauen in die Sowjetunion erschüttern. Im Jahre 1956 baten ihn einige verwirrte Freunde, irgendwelche (i) Proteste und Deklarationen zu unterschreiben. Er hat es abgelehnt.“ Was nicht wahr ist. Picasso hat damals, gemeinsam mit anderen französischen Intellektuellen, die Freilassang Tibor Derys and anderer verlangt.

Es wird von manchen völlig mißverstanden, daß es „heute möglich ist, in Rußland mehr zu sagen als früher“. Solange auch heute gesagt wird, was der Parteiführung genehm ist, erfüllt der Schriftsteller dort seine Funktion ebensowenig wie damals: mehr zu sagen, als genehm ist. Unter den gegebenen Verhältnissen mag Ehrenburgs spezieller Haltung, das bisher Verbotene, aber jetzt Gestattete auszusprechen, besondere Bedeutung zukommen; es gibt ja noch andere, die nicht einmal das zu tun wünschen oder wagen. Umgekehrt zeigt sich jedoch auch an Ehrenburg, wieviel Schaden er genommen hat. So ist in der Wiedergabe von Lenins Bemerkungen über Musik: „Für mich gibt es nichts Schöneres als die Appassionata; ich könnte sie Tag für Tag hören ... Immer denke ich ... welcher Wunder sind die Menschen doch fähig! Und mit zusammengekniffenen Augen fügte er lastlos hinzu: Aber za oft darf ich Musik nicht hören; sie macht mich nervenschwach; man möchte lieber Dummheiten plappern und die Menschen streicheln, die in einer dreckigen Hölle solche Schönheit erschaffen können. Heute aber darf man niemand mehr streicheln, sonst wird einem die Hand abgebissen. Man muß sie schlagen, erbarmungslos schlagen, obwohl wir im Ideal gegen jede Gewaltanwendung sind.“ Dieser Bemerkung wegen nennt Ehrenburg Lenin „vielschichtig“. Äußert sich in ihr das vollständige, gar nicht mehr anders als paranoisch zu nennende Verkennen der Kunst durch den Politizisten, so in Ehrenburgs Kommentar dazu das völlige Versagen des Schriftstellers, die Kunst und die Menschen vor jenen zu schützen, die nur „schlagen, erbarmungslos schlagen“ können, „obwohl“ sie „im Ideal gegen jede Gewaltanwendung“ sind. In diesem „Obwohl“ kündigt sich an, wozu die ursprüngliche Begabung eines Ilja Ehrenburg verurteilt wurde. Bei einigen der von ihm gezeichneten Porträts in seinen Erinnerungen flackert diese Begabung auf. Die Darstellungen Babels, Bal-monts, Bjelis, Blocks, Briussows, Jessenins, Markischs und anderer sind wichtige Beiträge zur Literatur- und Kunstgeschichte. Doch, obwohl die Personenliste des Bandes an die 1250 Namen enthält, von denen Ehrenburg etwa ein Fünftel selber g'ekannt haben könnte, ergibt sich daraus kein Panorama, sondern höchstens ein sich ständig zersplitterndes Kaleidoskop, und bei allem fieberhaften Bemühen um ihre Erfassung die denkbar unvollständigste Aufzählung aller Welten: Die des Mannes, der sich ihre Darstellung nicht von seinem Gewissen, sondern vom Blick über die Schulter erzwingen läßt.

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