Es ist eine merkwürdige Tatsache: In keiner seiner Biographien gewinnt Stalin reales Leben! Weder in den offiziellen und autorisierten .noch in der objektivkritischen noch in den offenkundig feindseligen Trotzkis und jener georgischen Menschewiki, die seine Jugendfreunde waren.! In allen diesen Büchern fehlen dem Bild Stalins die vollen Farben des Lebens. Es fehlt die Fülle persönlicher Erinnerungen der Frau, der Brüder und Schwestern, der Nachbarn und Jugendfreunde, wie im Falle Lenins, eine Sammlung intimer persönlicher Briefe, eine sich selbst offenbarende Autobiographie; es existiert nichts, was uns die Wesensart des Knaben, wenig mehr als öffentliche Handlungen und direkte Dokumente, was den Mann Stalin beschriebe. Auf Schritt und Tritt sind wir von Dunkelheit und Widerspruch umgeben. Dieser Mangel an verläßlichen Quellen geht so weit, daß zum Beispiel ein amerikanischer Biograph (I. Deutscher: Stalin, A Political Biography) Sowjetfilme, in denen die Gestalt Stalins dargestellt wird (zum Beispiel .Der Schwur“, .Die Schlacht um Stalingrad“), als Quelle für seine Stalin- Biographie heranzieht.
Wir sind in unseren Tagen Zeugen, wie ein Mythos entsteht. So mag in alten Zeiten, da es keine Geschichtswissenschaft, sondern nur Barden und Minnesänger gab, die Ilias, die Odyssee, das Nibelungenlied entstanden sein. Stalin wurde zum Gegenstand eines erstaunlichen Kultes, in dem kein Raum für Fühlbarkeit und gewöhnliches Menschentum bleibt. Berge von Dokumenten, Darstellungen, allgemeiner Partei- geschichite und Erinnerungen sind verböten und vernichtet worden. Die deutschen Bücherverbrennungen unter Hitler sind durch ein größeres Maß an barbarischem Ungestüm, aber durch weit geringere Gründlichkeit gekennzeichnet. Was gewußt werden darf und muß, ist in der unter Redaktion einer Kommission des Zentralkomitees der KPdSU (B) verfaßten Und vom ZK der KPdSU (B) gebilligten „Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki)“ enthalten. Diese Schrift ist in die gesammelten Werke von Stalin aufgenommen.
