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Die schleppende Entstaliriisierung

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Wie steht es aber mit dem Ent-stalinisierungs- und Rehabilitierungsprozeß in der Sowjetunion? Nach Meinung von Professor Mihajlov hat dieser Prozeß erst begonnen. Bis jetzt wurde nur eine bescheidene Anzahl von Kommunisten rehabilitiert. Ein Moskauer Student sagte seinem Besucher aus Jugoslawien: „Die Kommunisten haben lediglich ihre Genossen rehabilitiert. Und tausende ehrliche Menschen — Nicbtkommunisten — was ist mit ihnen?“ „So besteht heute in der Sowjetunion ein zweideutiges Verhältnis zum Stalinismus und zu den Kämpfer gegen den Stalinismus.“ Die Partei verurteilt gleichzeitig AntiStalinisten und Stalinisten. Menschen, denen es schon vor dem zweiten Weltkrieg gelang, nach dem Westen zu fliehen, werden noch heute als Verräter gestempelt. Professor Mihajlov erwähnt den Fall Ivan Solonjevic, der 1937 nach dem Westen kam und das hier vielgelesene Buch „Rußland im KZ-Lager“ veröffentlichte (kroatische Ausgabe 1939).

Der Mut der Wlassow-Leute

Das Interessanteste in diesem Reisebericht und nicht nur für die sowjetischen, sondern auch für jugoslawische Kommunisten am gefährlichsten ist jene Stelle, wo sich Mihajlov für die Rehabilitierung der gegen den Kommunismus im zweiten Weltkrieg eingesetzten Volksgruppen einsetzt. Die Zeitschrift „Junost“ veröffentlichte in diesem Jahr den Roman „Der Mensch bleibt Mensch“

von Jevgenij Piljar.

Dieser Versuch stellt den Anfang der Diskussion über das außerordentlich schwere Problem der Beziehungen der Rotarmisten zu den Kosaken aus der sogenannten Russischen Befreiungsarmee des Generals Wlassov dar. Piljar beschreibt nämlich die heroische Haltung der von seiten der Roten Armee festgenommenen Kosaken während der Folterung. Der Autor ist im Dilemma ... Ja', ich weiß, daß sie Verräter sind, aber womit ist dieser Verrat solcher Menschen zu erklären, dieser gewöhnlichen russischen Bauern, die mit einer derartigen heroischen Haltung in den Tod gehen? — zitiert Mihajlov und sagt: „Vieles ist noch zu erklären...“

„Ein Tag im Leben...“

Im Verlaufe seines Aufenthaltes in der Sowjetunion ist der Gast aus Jugoslawien mit vielen prominenten sowjetischen Intellektuellen zusammengekommen. Besonders interessant ist die Begegnung mit dem Schriftsteller Ilja Ehrenburg, der aber nach Mihajlov „der Mensch der typischen sowjetischen Psychologie ist, blind und taub für Argumente und empirische Tatsachen“. Im Kontakt mit Schriftstellern und Kritikern erlebte Mihajlov auch viele angenehme Überraschungen. So etwa: „Mich hat sehr angenehm überrascht, daß ein typischer sozialrealistischer Theoretiker und Historiker wie es Gus ist, die Werke von Teilhard de Chardin kennt.“ W. I. Lakschin, einer der Redakteure der repräsentativsten sowjetischen Zeitschrift „Novij mir“, sagte dem Besucher aus Jugoslawien, daß der vielumstrittene Alexander Sols-henizyn („Ein Tag des Ivan Deniso-witsch“) die größte literarische Erscheinung in der Sowjetunion nach dem zweiten Weltkrieg ist

Die lästernden Studenten

Aber die einzige Hoffnung des modernen Rußlands ist die Jugend! Die älteste Generation habe versagt. Auch die klügsten sowjetischen Köpfe sind nicht ganz frei von stalinistischer Denkweise. Es gibt nur wenige Künstler, die trotz des Terrors ihre Unabhängigkeit nicht preiszugeben bereit waren und sind. „Häretiker“, sagte einer von Mihajlovs Gesprächspartnern, „sind das Salz der Erde und erhalten das Leben des Alls.“

Doch eines der stärksten Erlebnisse Mihajlovs in der Sowjetunion war ein Abend mit Studenten der Moskauer Universität, die Lieder aus stalinistischen KZ-Lagern vorgetragen haben. „Das ist die großartigste Folklore unserer Zeit“, rief Mihajlov aus. „Diese Lieder sind voll Verzweiflung und Spott, Protest und Resignation.“

Gesinnungsfreiheit?

Professor Mihajlo Mihajlov, Nachfahre eines russischen Emigranten und glühender Bewunderer von Dostojewski, Solowjew, Berdjajew und Pierre Teilhard de Chardin, hat schon im vergangenen Jahr in der kroatischen Zeitschrift „Kolo“ betont, daß die Lebensfragen, die Dostojewskis Helden gestellt haben, keine kommunistische Gesellschaft und Revolution beantworten kann.

Was man in Jugoslawien unter Gesinnungsfreiheit versteht, geht aus der Zeitung „Kommunist“ hervor, die anläßlich Mihajlovs Artikel unter der Überschrift „Die Mystik eines Chronisten“ schrieb: „Der Moskauer Sommer' spricht nicht nur über die Literatur und Folklore, sondern über eine verdächtige politische Exkursion ... Die Veröffentlichung des erwähnten Artikels in einer unserer literarischen Zeitschriften bietet Anlaß, damit noch einmal die Frage nach der Verantwortung des öffentlichen Wortes zu stellen.“ Nach dem Verhalten der Belgrader Kommunisten Professor Mihajlov gegenüber wird man ermessen können, wie weit der Intellektuelle in Jugoslawien in seinen Äußerungen unabhängig sein kann. Nach manchen Berichten wurde Mihajlov verhaftet. Alle Menschen, die Professor Mihajlov persönlich oder durch seine Essays kennen, sind mit Recht um sein Schicksal besorgt.

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