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Randbemerkungen zur woche

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DER ANACHRONISTISCHE GLOCKENKRIEG .IN SÜDKARNTEN weckt die Erinnerung an das in die Geschichte eingegangene Gymnasium von Cilli. Damals, wenige Jahre vor der Jahrhundertwende, st i ein österreichisches Ministerium, weil an der deutschsprachigen Mittelschule dieser Stadt -slowenische Parallelklassen eingerichtet werden sollten. Das beleidigte deutsche Nationai- geiühl sträubte sich gegen diese .Anmaßung“. Es sträubte sich so lange, bis aus Cilli Celje wurde und im ehemaligen steirischen Unterland kein deutsches Wort mehr zu hören ist Soweit die Geschichte-, man glaubte annehmen zu dürien, daß ihre Lehren in allen Lagern gezogen wurden. Allein weniger aus dem Ereignis als aus verschiedenen Kommentaren zeigt es sich, daß die gewonnene Einsicht nicht überall lest verankert ist. Sonst wäre wohl kaum ein an sich lokaler Vorfall — wortwörtlich — „an die große Glocke gehängt“ worden. Die Situation: Das Glockenkomitee des gemischtsprachigen Kärntner Dorfes Suet- schach tat seinerzeit, als es eine Glocke bestellte, das einzig Mögliche, als es eine lateinische Inschrift in Auftrag gab. Als nun die Glocke aus Motiven, die wir nicht untersuchen wollen, mit einer deutschen Inschrift ankam, entschloß jnan sich, um keinen Unfrieden einziehen zu lassen, zu deren Tilgung. Die Hammerschläge, die die umstrittene Inschrift löschten, weckten nicht nur die Suetschacher Bevölkerung, sie riefen auch eine gewisse Presse (der Wahrheit zur Ehre: es war nicht, wie man vielleicht erwarten hätte können, die Parteipresse der Rechtsopposition) auf den Plan. „Tito-Piarrer: Deutsch nix gut!..,,Slowenischer Chauvinist schändet eine Glocke..So und ähnlich lauteten die Schlagzeilen in Teilungen, die ansonsten mit uns der Meinung sind, daß Oesterreichs Mission im Donauraum nicht abgeschlossen ist. Achtung, Freunde, das ist der Weg nach Celje, den ihr geht

DER DEUTSCHE EVANGELISCHE KIRCHENTAG 1954 in Leipzig, der am 6. Juli begann, hat eine außerordentliche religiöse, dann innen- und außenpolitische Bedeutung. Zum ersten Male seit 1945 findet mitten in Ostdeutschland ein großes Treffen von Christen statt, von deutschen Christen aus Ost- und Westdeutschland. Von 69 Sonderzügen kamen 13 aus Westdeutschland. Eine mächtige Bekundung der Einheit der deutschen evangelischen Christenheit! Ueber die kämpferischen. Parolen des ostzonalen Regimes erhoben sich also in der so wichtigen Großstadt Leipzig für einige Tage die Spruchbänder mit dem Wort der Psalmen und des Evangeliums, über das düstere Rot, die Einheitsiarbe des Ostens, flatterten hundertiach die Fahnen mit dem violetten Kreuz aut weißem Grunde: das Kreuz des Karfreitags, das Kreuz der Passiop, das Kreuz der evangelischen Christenheit. — Neben der religiösen Bedeutung dieses Treffens ist seine außen- und innenpolitische Seite nicht zu unter schätzen. Die ostzonale Regierung versucht dergestalt zu demonstrieren, daß sie gewillt sei, ihren christlichen Staatsbürgern Glaubensfreiheit zuzusichern — diese Demonstration ist in ihrer Reichweite bestimmt für Genf, Paris und London —, nicht zufällig gab gleichzeitig der Vietminhlührer Ho-chi-Minh eine Erklärung ab, die den Katholiken im bisher französisch besetzten Indochina Glaubensund Kultireiheit zusichert. So eng, so weit ist das Netz, ist die innere Korrespondenz der Weltpolitik im heutigen Ostraum. — Die innerdeutsche Dimension des Leipziger Kirchentages bietet des Aufregenden genug: zum erstenmal seit der Zerklültung Deutschlands in Ost und West kam es hier zu einem Tretten ¡ährender Politiker der Bonner Bundesrepublik mit Männern des ostdeutschen Regimes. „Der starke Mann von Bonn“, der Präsident des Bonner Bundestages, Dr. Ehlers, der als Oldenburger Oberkirchenrat an der Veranstaltung teilnimmt, ein Bonner Staatssekretär und andere prominente Politiker der Bundesrepublik kamen hier mit dem Präsidenten der „Volkskammer“ (wie das ostdeutsche Parlament heißt), Dieckmann, und dem Vizeministerpräsidenten Nuschke zu politischen Gesprächen zusammen; ihre Bedeutung ist heute noch nicht abzusehen. Dasselbe gilt für die innenpolitische Bedeutung des Leipziger Tages für Westdeutschland: die evangelischen Verbände haben durch ihn ein gewichtiges Wort hineingesprochen in die konfessionellen Auseinandersetzungen — und sie haben gezeigt, welche Bedeutung der deutsche Osten für alle ihre Stellungnahmen und Entscheidungen hat. Das geschieht in einem Moment, in dem Westdeutschland um seine Souveränität ringt in freundschaftlich - dringender Auseinandersetzung mit London und Washington, in Kontroverse mit Paris .

DREI TAGE NACH DEM ERSTEN JAHRESTAG der ,neuen Etappe", wie der vielbesprochene „neue Kurs" des Ministerpräsidenten Nagy in Ungarn genannt wird, wurden wichtige Umbesetzungen innerhalb der Regierung in Budapest bekannt. Sie betreffen außer dem Posten des Innenministers zwei bzw. drdi Porteleuilles aus dem Wirtschaftssektor. Diese erste größere Wachablöse seit dem nach allen Regeln der Dramaturgie vollzogenen Abgang Rakosis als Regierungschef vor einem Jahr wäre kaum bedeutungsvoll genug, um aus der Gesamtschau des politischen Geschehens in den östlichen Nachbarländern herausgehoben und für sich allein betrachtet zu werden, ginge es hierbei nicht immerhin um den besten Waifen- kameraden Rakosis, um Ernö Gero. Während „Magyar Nemzet" dem unausgesprochenen, doch um so eitriger befolgtem Motto gemäß, „Untertreibung ist Trumpf“, diese Aende- rungen unter dem sinnvollen Titel „Ernennungen und Enthebungen" ohne jeden Kommentar mitteilte, wollten einige westliche Beobachter in Gero plötzlich den bestraften Sündenbock für einen mißglückten Fünijahrplan sehen. Gleichzeitig wahrsagten sie in Folge der Ernennung des bisherigen Poiizeicheis zum Innenminister eine neue, noch nie dagewesene Terrorwelle. Was war indessen geschehen? Ernö Gero, nach wie vor erster Stellvertreter des Ministerpräsidenten, wurde, „infolge anderer wichtiger Aufträge“, seines Postens als Innenminister enthoben. Zu seinem Nachfolger wurde sein bisheriger Stellvertreter im Innenministerium, Feldmarschalleutnant Lâsziô Piros, gewählt. Die übrigen Ernennungen sind von untergeordneter Bedeutung. Nun war Gero, der erfolgreiche Verkehrsminister der ersten Nachkriegsjahre, bekanntlich der Initiator und höchste Lenker des ersten Fünijahrplanes. Ohne die überragenden Fähigkeiten dieses vor zehn Jahren aus Moskau zurückgekehrten Sohnes einer in Westungarn ansässigen Dorfgreißleriamilie hätte es Rakosi mit seiner Machtergreifung kaum so leicht gehabt. Es fiel also vor einem Jahr trotz der erwiesenen Fehlplanung in Wirtschaft und Politik niemandem ein, auf Gero zu verzichten, im Gegenteil, er blieb Innenminister und überwachte die schwierigen Rückzugsbewegungen eines polizeilichen Systems, das mit dem berüchtigten Namen des seither eingekerkerten Poiizeicheis Gâbor Péter zur Genüge gekennzeichnet ist. Heute scheint Gero in seine eigentliche Domäne, zur Wirtschaftsplanung, zurückzukehren. Sowohl bei dem letzten Parteikongreß im Mai als auch in seinem vor einigen Tagen in der Moskauer „Prawda“ veröffentlichten Artikel nahm er zu den aktuellen Wirtschaftslagen Ungarns, insbesondere zur Lage der Landwirtschait, kritisch Stellung. Ungefähr zur gleichen Zeit berichtete sein Nachiolger im Innenministerium, ein früherer Gewerkschaltler: „Die Leiter und

Beamten des Innenministeriums fernen immer mehr, daß die Ermittlung der Wahrheit in jeder verwickelten Lage nur auf eine Art möglich ist, mit der strengen, konsequenten Einhaltung der gesetzlichen Mittel und Methoden.“ Und: „Seit dem Erscheinen des Regierungsprogramms kommen in der Arbeit unserer Polizeiorgane unerlaubte, von unseren gesetzlichen Vorschriiten abweichende Er- hebungs- und Untersuchungsmethoden, die Belästigung rechtschaffener Menschen, übertriebene administrative Maßnahmen, immer seltener vor." Worte? Gewiß

EINE NEUE TEILUNG steht — wenn die militärischen Ereignisse dies nicht überflüssig machen — in Indochina um einen noch ungebrauchten Breitegrad in Aussicht. Es wäre wirklich lohnend, einen beiläufigen Ueber- schlag der „gerechten" Teilungen_ nach dem Kriegs- und Friedensmusterstück Nummer 1 zu machen. Damals zielte man bekanntlich auch auf die Gerechtigkeit und Selbstbestimmung, auf Freiheit und Frieden. Zu diesem Zwecke war der Oberst T. E. Lawrence mit 1500 Kamelreitern in Damaskus eingerückt. Für die Araber. In London hatte man aber auch der Gegenseite etwas verheißen; also zum Schlüsse Teilung Palästinas, Krieg, Mord, Zerstörung. Keine der beiden Seiten ist zufrieden. Dann wiederholte man ein Experiment Napoleons und schuf die Freie Stadt Danzig. Was darauf folgte, wissen wir alle. General Zeligowski sammelte Truppen und marschierte, Wilna für Polen beanspruchend. Was sich mit Tirol abgespielt hat, müssen wir nicht ausführen. Dann marschierte Korianty für Polen. Die Bot- schalterkonierenz vom 10. Oktober 1921 teilte wieder einmal. Und zwar ungefähr mit den Geographiekenntnissen, wie sie der ehrenwerte Arthur James Baliour besaß, der auf die Konzession eines schlesischen Ortes namens Lublinilz hartnäckig auf Lubomir bestand — obschon ein solcher Ort nicht vorhanden war-, Wacher geworden, schut man nach dem Kriegsmusterstück Nr. 2 den traurig-berühmten 8. Breitegrad. Man erzeugte — da ein umstrittenes Triest zuwenig — derer zwei, A und B, und vergaß ganz, was der Dichterpartisane d’Annunzio vorexerziert hat. Man will uns glauben machen, die öiientliche Meinung forderte die Teilung. Wèiche Oeiientlichkeit? Der Chinese hat für den Begriff „Oeiientliche Meinung das Zeichen „Törichtes Volk“. Es ist nicht anzunehmen, daß es mit einem Linealstrich über die mißhandelte Landkarte zu den vielen ohnehin vorhandenen Brandherden einen neuen verlangt.

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