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Der Geist von Wien

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Wenn es nach dem Willen der 35 Staaten geht, die das Schlußdokument des 3. Folgetreffens der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Wien unterzeichnet haben, dann ist endgültig das Ende des Kalten Krieges gekommen. Europa hat sich eine Hausordnung gegeben, die eigentlich jedem Hausbewohner den freien, eigenverantwortlichen Umgang mit den anderen ermöglicht, die ein Verriegeln der Wohnungstüren obsolet werden läßt.

Bricht jetzt jenes Zeitalter an, das Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow in einem „Prawda“-Interview zum Wiener KSZE-Abschluß als das der „gemeinsamen Entwicklung“ und der „gemeinsamen Kreativität“ bezeichnet hat?

Der Helsinki-Prozeß mit seinen vielen Ästen ist mit der Wiener Konferenz zweifellos einen großen Schritt vorangekommen. Das Wiener Schlußdokument ist ein Manifest jener Änderungen in vielen osteuropäischen Staaten, die sich parallel zum Wiener Folgetreffen seit mehr als zwei Jahren vor unseren staunenden Augen vollzogen.

Besonders auffallend in dem Wiener Schlußdokument ist die Aufwertung des Einzelmenschen, der - ebenso wie Gruppen - berechtigt ist, die Einhaltung der KSZE-Bestimmungen zu überwachen. Sogenannten „Helsinki-Monitoren“ werden direkte Kontakte zu Gleichgesinnten in allen KSZE-Staaten gestattet: eine Voraussetzung für die Implementierung der Wiener Bestimmungen in den einzelnen Ländern.

Die Durchsetzung des Geistes von Helsinki, dem sich jetzt der Geist von Wien hinzugesellt, erfordert den Einsatz von unten. Vielleicht hat Wien die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß sich — auch im kommunistischen Osten — eine kritische Öffentlichkeit herausbildet, die den Buchstaben des 3. KSZE-Foigetreffens Leben einhauchen kann.

Daß viel gehaucht werden muß, bedarf keiner großen Erläuterungen. Bei aller Euphorie über den in Wien gesetzten Meilenstein darf nicht vergessen werden, daß dieser vorerst einmal nur auf Papier gezeichnet wurde.

Rumänien, das dem Wiener Treffen in der Endphase Prügel vor die Füße warf, hat bei gewissen Bestimmungen, die Religionsfreiheit und die Minderheitenfrage betreffend, bereits Vorbehalte angemeldet. Nicolae Ceausescu kann sich mit den individuellen Menschenrechten, die politische, wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Freiheiten postulieren, nicht anfreunden.

Der mühsam von den neutralen und nicht-paktgebundenen Staaten erarbeitete und von der Wiener Konferenz akzeptierte Kompromiß steht schon knapp nach seiner Geburt vor tödlichen Bedrohungen. Nicht nur Rumänien kreuzte die Finger der einen Hand, während die andere unterschrieb.

Die Tschechoslowakei sieht sich wieder einmal vom Westen unterwandert, nur weil ein paar tausend Leute ein bißchen mehr Freiheit fordern. In der Deutschen Demokratischen Republik — in der Besuchspraxis seit kurzem etwas großzügiger - werden Menschen verfolgt, die „Freiheit“ nicht über staatliche Lautsprecher brüllen. Bulgarien betreibt nach wie vor gegenüber der türkischen Minderheit eine strikte As-similierungspolitik. Die Türkei -vertreten durch Außenminister Mesut Yilmaz — konnte in Wien nicht genug darüber klagen, während der Generalsekretär der türkischen Metallarbeitergewerkschaft, Halit Erdem, eine durch

Unterdrückung, Gesinnungsjustiz, willkürliche Verhaftungen und systematische Folter als Verhörmethode gekennzeichnete triste Menschenrechtslage in seinem Land anprangerte.

Im Westen lobt man die Offenheit mancher kommunistischen Länder und unterstreicht das Recht jedermanns, „sein Land zu verlassen“ — so George Shultz bei seiner letzten Rede als US-Außenminister in Wien - sieht aber kaum, daß dieser Forderung auch eine äußerst liberale Asyl- oder Aufnahmepraxis der westlichdemokratischen Länder entsprechen müßte.

Die bis zum 4. Folgetreffen - ab 24. März 1992 wieder in Helsinki -vorgesehenen drei Menschenrechtskonferenzen (ab 30. Mai 1989 in Paris, ab 5. Juni 1990 in Kopenhagen und ab 10. September 1991 — sensationell — in Moskau) werden alle Hände voll zu tun haben, um die akzeptierten Menschenrechtsstandards und Vereinbarungen bezüglich der Freizügigkeit (Ausreise aus jedem Land) einzuhämmern und durchzusetzen.

Neben sechs weiteren in Wien vereinbarten Treffen zu KSZE-Fragen bis 1992 können die ab März in Wien beginnenden Verhandlungen zwischen den 23 Mitgliedsstaaten der NATO und des Warschauer Paktes über konventionelle Streitkräfte in Europa (KRK) und die Beratungen über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen (KVAE II) -ebenfalls in Wien - größten Interesses sicher sein. In einer durch Gorbatschows angekündigte Abrüstungsvorleistungen (FURCHE 50/1988) geschaffenen günstigen Atmosphäre ist der Optimismus nach der Erfolglosigkeit der Wiener MBFR-Gespräche groß.

Trotzdem werden sich die KRK-Gespräche schwierig gestalten. Waffenzählen war nie leicht; und es wird sich erst zeigen, ob die neue Konferenz mehr ist als ein Austausch der Kürzel.

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