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Europa muß mit dem Risiko leben

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Dem Mittelstreckenraketenabkommen müssen weitere Abrüstungsschritte folgen. Es geht um Europas Sicherheit. Eine Chance für die Wiener Truppenabbaugespräche.

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Dem Mittelstreckenraketenabkommen müssen weitere Abrüstungsschritte folgen. Es geht um Europas Sicherheit. Eine Chance für die Wiener Truppenabbaugespräche.

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Das allgemeine Hochgefühl im Gefolge des Gipfeltreffens zwischen US-Präsident Ronald Reagan und Generalsekretär Michail Gorbatschow, mit dem INF-Ab-kommen als handfestem Ergebnis, schwappt manchmal über; vernebelt den Blick für die nach Verschrottung von insgesamt 685 sowjetischen und 388 amerikanischen Mittelstreckenraketen entstehende neue sicherheitspolitische Situation Europas.

Was nützt es dem Kontinent, wenn sich Russen und Amerikaner auf die Schulter klopfen und einander plötzlich gar nicht so .häßlich finden? Nüchternheit ist angebracht, glaubt man an das Axiom, daß ein Atomkrieg nicht führbar ist, Kriegsgefahr erst unterhalb der Atomschwelle entsteht.

Im Komplex Vertrauens- und sicherheitsbildender Maßnahmen zwischen Ost und West hat der Intermediate Nuclear Forces-Vertrag eine entscheidende Bedeutung. Trotzdem braucht Europa weitere abrüstungspolitische Schritte. Geht es doch - wie Oberst Simon Palmisano, Militärberater der österreichischen Delegation bei der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), gegenüber der FURCHE betont - um die Zukunft „konventioneller Stabilität“.

Und diese konventionelle Stabilität kann nur durch Reduktionen im sogenannten konventionellen militärischen Bereich — „gegen vorhandene Disparitäten“ — erreicht werden. Palmisano spricht in diesem Zusammenhang von einer nicht ganz unbegründeten Hoffnung auf konventionelle Abrüstung, die durch die Verhandlungen zwischen den sieben Warschauer Pakt- und den 16 NATO-Staaten (den sogenannten 23er Gesprächen) am Rande des Wiener KSZE-Folgetreffens genährt werde. Diese 23er Gespräche sind um die Erstellung eines Mandats über Truppenreduzierungen bemüht, haben aber noch zu keinem Ergebnis in der Frage geführt, wie die neutralen und nichtpaktgebundenen KSZE-Teilnehmerstaaten — also etwa Österreich, die Schweiz und Jugoslawien — in einen Konsultationsund Informationsprozeß eingebunden werden könnten.

Für Österreich — so der Oberst— hat sich nach dem INF-Abkom-men die Gefährdungssituation nicht geändert. Es bestehe nach wie vor die Notwendigkeit zu vermehrter Rüstungsanstrengung. Österreich brauche Gefechtsfeld-lenkwaffen. Die gegenwärtige Budgetpolitik mache hier aber einen Strich durch die wehrpolitische Rechnung.

Für Europa — und mitten in ihm Österreich — bleiben auch nach dem INF-Vertrag vertrauens-und sicherheitsbildende Maßnahmen wichtig. Beide Aspekte werden seit dem Madrider KSZE-Folgetreffen im KSZE-Forum wahrgenommen.

Ursprünglich wollte man sicherheitsbildende Maßnahmen im Rahmen der Wiener Truppenreduzierungsgespräche (MBFR) erreichen. Doch die Erfolglosigkeit der MBFR-Verhandlungen hat 1983 in Madrid zum Mandat für die 1986 erfolgreich abgeschlossenen KVAE-Gespräche (Konferenz über Vertrauens- und

Sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung) in Stockholm geführt.

Das KVAE-Abkommen ist jetzt ein Jahr in Kraft. Und in diesem Jahr - so Palmisano - hat die Anwendung der KVAE-Bestimmun-gen - klare Notifikations-(An-kündigungs-), Beobachtungsund Verifikationsbestimmungen „militärischer Aktionen“ (nicht mehr nur „Manöver“) — „offensichtlich zu größerer Transparenz und Sicherheit in Europa beigetragen“.

Das Notifikationsregime der KVAE macht nebulose Angaben über zahlenmäßige und strukturelle Veränderungen im militärischen Bereich unmöglich. Vorankündigung und Jahreskalender für militärische Aktionen sowie militärisch beschränkende Bestimmungen (zum Beispiel über

Manöverplafonds) haben als vertrauensbildende Maßnahmen ihre Wirkung in Europa nicht verfehlt.

Die KSZE-Teilnehmerstaaten haben sich in diesem ersten Jahr sehr genau an die in Stockholm vereinbarten Bestimmungen gehalten. Und eine vorausschauende Bewertung dieser Aktivitäten läßt eine „Verminderung der Bedrohlichkeit“ (Palmisano) als Schlußfolgerung zu.

Besonders positiv haben sich die Bestimmungen über die Beobachtung von militärischen Aktionen erwiesen, die ab einer bestimmten Aktivitätsschwelle obligatorisch sind. Früher nur auf freiwilliger Basis des betreffenden Staates, müssen jetzt Beobachter aus allen KSZE-Teilnehmerstaaten zu Aktionen ab einer bestimmten Größe eingeladen werden. Das erfordert eine enorme Erziehungsarbeit im militärischen Bereich, der eigentlich auf Geheimhaltung getrimmt ist.

Schließlich gibt es noch die Möglichkeit einer Inspektion vor Ort als Verifikationsmöglichkeit. Jeder KSZE-Teilnehmerstaat hat das Recht, solche Inspektionen zu verlangen, falls er Zweifel über militärische Aktionen in einem anderen Land hegt. Auch hier wurde das Eis bald gebrochen: Fünf derartige Inspektionen, die ja eigentlich von einem begründeten Mißtrauen ausgehen, wurden bis dato durchgeführt.

So kann man eigentlich aufgrund der Erfahrungen mit den KVAE-Bestimmungen für die im INF-Vertrag vorgesehenen Verifikationsmechanismen optimistisch sein. Zumal das Vertrauen in Europa im vergangenen Jahr offenbar noch gewachsen ist. Die Befürchtung, daß sich Inspektionen vor Ort als Instrumentarium der Verifikation, weil mit Mißtrauen befrachtet, nicht durchsetzen werden, hat sich als unbegründet erwiesen. Doch noch immer bleibt die große Frage, wie ein KSZE-Staat, vor allem ein kleiner, von gewissen militärischen Aktivitäten erfahren kann, die sein begründetes Mißtrauen erregen könnten. Hier bieten sich die Möglichkeit und die Chance, die KVAE-Bestimmungen weiterzuentwickeln und zu vervollkommnen, um zu größerer Sicherheit in Europa zu gelangen.

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