Zum Schutz von ALLEN

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Es gibt rationale Gründe, warum alle Menschen Trägerinnen und Träger von Menschenrechten sind -bedingungslos, immer und überall.

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Es gibt rationale Gründe, warum alle Menschen Trägerinnen und Träger von Menschenrechten sind -bedingungslos, immer und überall.

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Aus Eigeninteresse wird gegenwärtig von verschiedenen Akteuren versucht, die Menschenrechte unter Verdacht zu stellen: Gewisse Regierungen versuchen, die Menschenrechte zu diskreditieren, um uneingeschränkt Macht missbrauchen zu können oder um bei einer Gruppe von Menschen vermeintlich populär zu werden, indem sie die Menschenwürde einer anderen Gruppe verletzen -z. B. durch unverhältnismäßige Zwangsabschiebungen. Einige Konzerne stellen Profit über die Achtung der Menschenrechte aller Menschen, indem sie beispielsweise Rohstoffe von Kindern unter menschenunwürdigen Bedingungen schürfen lassen. Illiberale Strömungen und Gruppierungen in allen Religionen meinen, dass Menschen an der Kirchentür, am Eingang zum Tempel, zur Synagoge oder zur Moschee ihre Menschenrechte abgeben würden.

Diesen Versuchen, die Menschenrechte schwächen zu wollen, ist entgegenzuhalten, dass die Menschenrechte in ihrer Universalität ethisch begründbar sind. Dies bedeutet, dass rationale Gründe aufgeführt werden können, warum alle Menschen Trägerinnen und Träger von Menschenrechten sind - bedingungslos, immer und überall.

Menschenrechte schützen die Pluralität

Eine ethische Begründung der Menschenrechte kann sich auf das Prinzip der Verletzbarkeit abstützen: Der Mensch nimmt sich erstens selbst in seiner eigenen Verletzbarkeit wahr. Der z. B. jetzt gesunde Mensch weiß, dass er morgen krank werden könnte. Während dieses Bewusstseinsbildungsprozesses eröffnet sich zweitens dem Menschen die "Erste-Person-Perspektive" und das "Selbstverhältnis". Diese umfassen die Wahrnehmung des Menschen, dass er seine Verletzbarkeit als das Ich-Subjekt erlebt, d. h. als die erste Person Singular. Die Verletzbarkeit wird drittens vom Menschen ebenfalls für die "Erste-Person-Perspektive" und das "Selbstverhältnis" wahrgenommen. Viertens wird ihm klar, dass er die Verletzbarkeit mit allen Menschen teilt.

Dies ermöglicht dem Menschen fünftens die Bewusstwerdung, dass er mit allen anderen Menschen auch die je individuelle "Erste-Person-Perspektive" sowie das je individuelle "Selbstverhältnis" teilt. Die "Erste-Person-Perspektive" und das "Selbstverhältnis" erkennt der Mensch so als Bedingung der Möglichkeit eines Lebens als Mensch. Der Mensch wird sich bewusst, dass auch diese Bedingung der Möglichkeit eines Lebens als Mensch verletzbar ist. Angesichts seiner Verletzbarkeit will der Mensch primär überleben und als Mensch leben. Da sich der

Mensch seiner Verletzbarkeit bewusst ist, gleichzeitig aber nicht weiß, ob und wann seine Verletzbarkeit zu einer Verletzung wird, entfaltet sich sechstens die folgende Bereitschaft: Es ist für ihn die vorteilhafteste und klügste Lösung, sich selbst und allen Menschen die "Erste-Person-Perspektive" und das "Selbstverhältnis" mit Rechten, die allen Menschen zustehen, zu schützen. Dieser Menschenrechtsschutz zielt darauf ab, eine Transformation von Verletzbarkeit zu einer Verletzung zu verhindern bzw. im Falle einer Verletzung aktive Kompensation zu erfahren -z. B. im Falle von Krankheit durch medizinische Versorgung. Diese Argumentation kann zeigen: Menschenrechte sind in ihrer Universalität ethisch begründbar.

Neben ihrer ethischen Begründbarkeit spricht für die Menschenrechte, dass sie kulturelle, religiöse und weltanschauliche Pluralität schützen - durch die Achtung der Selbstbestimmung des Individuums, das Diskriminierungsverbot und das Recht auf Religionsfreiheit. Darin liegt ihr Alleinstellungsmerkmal als ethischer Referenzrahmen. Pluralität, die so durch die Menschenrechte gefördert wird, muss alle anderen Menschenrechte respektieren.

Im Rückgriff auf die Menschenrechte als ethisch verantwortete Handlungsgrundlage spiegelt sich ein ethischer Konsensprozess angesichts von Pluralität. Menschenrechte bilden einen ethischen Referenzpunkt, an dem säkulare und religiöse Ethiken zusammenfinden. Beispielsweise arbeitet christliche Ethik nicht nur mit den Menschenrechten als theologisch-ethischen Referenzpunkt, sondern kann auch eine theologische Fundierung der Menschenrechte leisten. Das christliche Verständnis, das keinen Unterschied zwischen Menschen hinsichtlich ihrer Menschenwürde zulässt, hat die Grundlage im jüdisch-christlichen Prinzip der Nächstenliebe, das auf der jüdischchristlichen Glaubensüberzeugung der Gottebenbildlichkeit der Menschen aufbaut.

Folgende Handlungsfelder zeigen beispielhaft die grundlegende Orientierungsstiftung der Menschenrechte in ethischen Entscheidungsfindungsprozessen:

Menschenrechte lassen den dringenden Handlungsbedarf im Bereich Flucht und Migration erkennen.

Höchste Priorität sollte der Schaffung von sicheren Migrations-und Fluchtwegen zukommen. Denn es lässt sich mit den ethisch begründbaren Menschenrechten nicht vereinbaren, dass Menschen in Migration oder auf der Flucht sterben, missbraucht und vergewaltigt werden. Zudem gilt es, die Ursachen von Flucht und Migration anzugehen. Solche Veränderungen brauchen Zeit. Menschen, die unter Menschenrechtsverletzungen leiden, benötigen jetzt eine Lösung. Auch für jene Menschen, die sich aus wirtschaftlichen Gründen auf den Weg machen, muss daher jetzt global eine Lösung gefunden werden. Denn liberales Denken kann nicht bei der Migration aufhören.

Primär sind die Staaten dazu verpflichtet, die Menschenrechte zu realisieren. Dabei handelt es sich um eine primäre, aber nicht alleinige Verantwortung. Denn es gehört zur staatlichen Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass auch multinationale Konzerne die Menschenrechte respektieren. Aus dieser rechtlichen Verpflichtung der Staaten folgt eine rechtliche Verpflichtung der multinationalen Konzerne, auch diesen Ansprüchen Folge zu leisten. Die rechtliche Natur dieser Verpflichtung ist zusätzlich darüber hinaus darin begründet, dass weltweit Menschen auch für multinationale Konzerne Trägerinnen und Träger von Menschenrechten bleiben. Diese Menschenrechtsverpflichtung darf deshalb nicht als freiwilliges Engagement verstanden werden, wie dies bei einer Verortung der Menschenrechte in die Corporate Social Responsibility geschieht. Zur staatlichen Verpflichtung gehört schließlich auch, die Wirksamkeit der bestehenden Durchsetzungsmechanismen angesichts von Menschenrechtsverletzungen durch Konzerne zu verbessern. Hier setzt u. a. die Konzernverantwortungsinitiative in der Schweiz an.

Menschenrechte machen im Zuge der "digitalen Transformation" die ethische Chance bewusst, dass Roboter Menschen mit einer körperlichen Behinderung mehr Selbstbestimmung ermöglichen. Sie zeigen uns aber auch, dass dieses Mehr an Selbstbestimmung gleichzeitig eine höhere Datenabgabe an und Abhängigkeit von Maschinen bedeutet. Außerdem ist die Bedrohung der menschenrechtlich garantierten Privatsphäre und des Datenschutzes zu unterbinden.

Menschenrechte sind eine positive Nachricht

Die Menschenrechte sind eine positive Nachricht für alle Menschen -jede und jeden Einzelnen. Allen stehen sie bedingungslos, ohne Unterschiede, immer und überall zu. Wir müssen z. B. nicht reich sein, um das Recht auf Meinungsfreiheit zu besitzen. Wir haben das Recht auf Eigentum unabhängig vom Bildungsgrad. Wir dürfen wählen und abstimmen, ohne dieses Recht auf politische Mitbestimmung von der Regierung oder vom Parlament erkaufen zu müssen.

Das ist eine schlechte Nachricht für Diktatoren. Denn in erster Linie steht der Staat in der Pflicht, die Menschenrechte zu respektieren, zu schützen, durchzusetzen und zu realisieren. Er muss sicherstellen, dass das Menschenrecht, an demokratischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsfindungsprozessen teilnehmen zu können, geachtet wird. Menschenrechte bilden damit die Grundlage für Demokratie.

Sie garantieren die freie öffentliche Debatte, die Meinungs-, Informations-und Medienfreiheit und die demokratischen Rechte. Ohne diese Menschenrechte könnte die Demokratie nicht funktionieren. Zudem wäre Demokratie ohne Menschenrechte nichts Anderes als ein Kampf zwischen Mehrheit und Minderheit. Dieser Mehrheits-Minderheits-Kampf würde auch das Risiko beinhalten, dass Minderheiten durch Mehrheiten diskriminiert werden. Denn es ist immer möglich und vorstellbar, dass Mehrheiten Mehrheitsentscheide erreichen, die Minderheiten in ihrer Menschenwürde verletzen. In letzter Konsequenz besteht in einem solchen Mehrheits-Minderheits-Kampf die Gefahr, dass sich die Mehrheit dazu entscheidet, die Demokratie abzuschaffen. In diesem Sinne ist es notwendig, ein Verständnis von Demokratie zu überwinden, das demokratische Entscheidungsprozesse mit Mehrheitsentscheiden gleichsetzt. Demokratie und Menschenrechte gehen Hand in Hand. Ohne Menschenrechte gibt es keine Demokratie.

Menschenrechte unter Verdacht

Am 10. Dezember jährt sich die Annahme der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" durch die UN-Vollversammlung zum 70. Mal. Die Menschenrechte blieben in Diskussion -und werden in vielen Ländern nach wie vor nicht umfassend umgesetzt. Aber auch in Europa geraten sie aktuell unter Druck -wenngleich sie weiter als Richtschnur für eine offene und gerechte Gesellschaft anzusehen sind.

Redaktion: Otto Friedrich, Oliver Tanzer

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