Verweigerungspolitik greift um sich

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Eine Revolution auf völkerrechtlicher Ebene: Absolute Nichteinmischung und nationalstaatliche Souveränität wurden zur Verteidigung der Menschenrechte relativiert - doch dieser Erfolg ist in großer Gefahr.

Eleanor Roosevelt, die Mitverfasserin der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, nennt diese einmal die "internationale Magna Charta für die gesamte Menschheit". Diese Antwort auf Völkermorde und Weltkriege wird nach 1948 zur Grundlage des humanitären Völkerrechts. Dazu zählen der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, genannt UN-Zivilpakt (1966), der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, genannt UN-Sozialpakt (1966), weitere Abkommen gegen Rassen- und Frauendiskriminierung, Folter, Missachtung von Kinderrechten u. a.

Die Allgemeine Menschenrechtserklärung setzt den inneren Bezug der Menschenrechte zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit voraus. Ferner eröffnet sie ein breites Spektrum ziviler, kultureller, wirtschaftlicher, politischer und sozialer Rechte und hebt deren inneren Zusammenhang und gegenseitige Abhängigkeit hervor.

Auf diesen Grundlagen werden einheitliche und universale Menschenrechtsnormen entwickelt. Sie ermöglichen, Missstände zu erkennen und wesentliche Handlungsmaximen zu definieren. Dank der neuen Normen des humanitären Völkerrechts werden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die unveräußerlichen Menschenrechte des Einzelnen Gegenstand der internationalen Politik. Im Laufe der Zeit kommt es zu einer Relativierung der grundsätzlichen Nichteinmischung in innenpolitische Angelegenheiten und zu einer Schwächung des Prinzips absoluter nationalstaatlicher Souveränität. Diese Entwicklung kommt einer Revolutionierung der internationalen Beziehungen gleich. Sie wirkt um so einschneidender, weil sie von der Entstehung einer erstarkenden, grenzübergreifenden, global vernetzten Zivilgesellschaft begleitet wird, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte verwendet.

Der normative Fortschritt steht im krassen Missverhältnis zu zunehmenden Missständen bei der Umsetzung der Menschenrechte. Dazu zählt die Verweigerungspolitik der mächtigsten "global players": Die USA, Russland, China und Indien lehnen das Zweite Fakultativprotokoll des UN-Zivilpakts (1989) ab, weil ihnen die Todesstrafe heiliger ist als das unveräußerliche Grundrecht auf Leben. Ebenso erkennen sie den Internationalen Gerichtshof in Den Haag nicht an, der Völkermord und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit ahndet.

Auch im politischen Alltag wird das Programm der Allgemeinen Menschenrechtserklärung untergraben. Im "Krieg gegen den internationalen Terrorismus" kommt es immer wieder zu neuen Verletzungen völkerrechtlich verbriefter Menschenrechte. In demokratischen Staaten, die sich Rechtsstaatlichkeit auf die Fahnen schreiben, werden Grundrechte oft ohne Sinne und Zweck beschnitten.

Meinungsfreiheit in Frage gestellt

Für autokratische Regime ein willkommener Zeitgeist, um unter dem Deckmantel einer dubios legitimierten Terrorismusbekämpfung unliebsame Kräfte zu liquidieren. Im Ergebnis ermöglicht das "Krieg dem Terror"-Programm, was einst die staatliche Souveränität leistete: Die sogenannte "Schutzverantwortung" der internationalen Gemeinschaft, gravierende Menschenrechtsverletzungen zu bekämpfen, ist ausgesetzt.

Psychologisch bedingt der "Krieg gegen den internationalen Terrorismus" ein Klima, in dem folgenschwere Wahrnehmungsfehler gedeihen. Urplötzlich steht die Unantastbarkeit der Meinungsfreiheit als unveräußerliches Grundrecht des Einzelnen zur Debatte. Oder es flammt ein Streit über Karikaturen auf: Vielerorts leben instrumentalisierte Fanatiker ihre Lust am Morden und Plündern aus. Lähmende Schockzustände stellen sich ein. Auf einmal kann die vermeintliche Schutzbedürftigkeit von Gruppierungen zum Rechtsgut erklärt werden, das auf gleicher Ebene wie das Grundrecht der Meinungsfreiheit jedes Einzelnen stehen sollte.

So beschäftigt sich der UN-Menschenrechtsrat mit "Diffamierung von Religion", als ob es jurististische Kategorien gäbe, die geeignet wären, mit phantomartigen psychologisch-gesellschaftlichen Phänomen umzugehen. Unabhängig davon, dass derartige Initiativen methodisch fehlgeleitet sind, unterhöhlen sie unveräußerliche Grundrechte des Einzelnen.

Heute so aktuell wie 1948 hält Artikel 28 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung fest: "Jeder hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können." Im Spannungsfeld zwischen Globalisierung und Umsetzung des humanitären Völkerrechts zeichnen sich immer mehr Herausforderungen im Bereich "wsk-Rechte" (wirtschaftliche, soziale, kulturelle Rechte) ab. Zum Teil werden sie in der Millenniumserklärung von 2000 sowie auf dem Weltgipfeltreffen von 2005 thematisiert: Armut (über eine Milliarde Menschen betroffen), Hunger (über 700 Millionen betroffen), Bildungsnotstand (über 115 Millionen Kinder betroffen), Trinkwassernotstand (über eine Milliarde Menschen betroffen), Hygienenotstand (über zwei Milliarden betroffen). Ferner bewirken die Verschärfung der Ernährungskrise, Klimaveränderung, Globalisierung, Terrorismus, bislang unbekannte und erneut auftretende Epidemien sowie neuerdings die Finanzkrise dramatische Entwicklungen, die bei der Umsetzung der Menschenrechte große Rückschritte befürchten lassen.

Am 60. Jahrestag der Allgemeinen Menschenrechtserklärung, wird die UN-Vollversammlung am 10. Dezember 2008 das Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt verabschieden. Entscheiden wird aber auch hier wieder die anschließende Umsetzungsphase sein.

Der Autor war bis 2007 Referent für Religions- und Weltanschauungsfreiheit im Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

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