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Blick nach Den Haag

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New York, im Jänner

Als Präsident Eisenhower am 9. Jänner in seiner alljährlichen politischen ProgTammrede „State of the Union” vor dem amerikanischen Kongreß in Washington für die nächsten zwei Jahre Bestrebungen der USA ankündigte, „den Arbeitsmechanismus der Vereinten Nationen in einer Weise zu ergänzen, daß im zwischenstaatlichen Verkehr Gewalt durch Recht ersetzt wird”, berührte er damit eine Frage, welche für die Zukunft der Weltorganisation von entscheidender Bedeutung ist. Beobachter hier am Sitz der Vereinten Nationen in New York stimmen darin überein, daß Präsident Eisenhower den Versuch machen wird, die gegenwärtige Tendenz der UNO, jede internationale Frage als ein ausschließlich politisches Problem zu betrachten, aufzuhalten und zu erreichen, daß bei der Beilegung zwischenstaatlicher Streitfälle dem Internationalen Gerichtshof im Haag eine größere Rolle als bisher eingeräumt wird.

Tatsache ist, daß in der fast vierzehnjährigen Geschichte der Vereinten Nationen zwar sehr viel und oft von Völkerrecht und Gerechtigkeit gesprochen worden ist, der Internationale Gerichtshof aber heute als das weitaus schwächste und am wenigsten benutzte der sechs Hauptorgane der UNO dasteht (die anderen Hauptorgane sind die Generalversammlung, der Sicherheitsrat, der Treuhandschaftsrat, der Wirtschafts- und Sozialrat und das Sekretariat). Es besteht kein Zweifel darüber, daß die Hauptschuld an dieser Entwicklung jene Staaten trifft, die es bisher vorgezogen haben, auch in internationalen Streitfragen stets vorhandene rechtliche Probleme ausschließlich vom politischen Gesichtspunkt aus zu behandeln.

Auf den ersten Blick erscheint es paradox, zu behaupten, daß die Bedeutung des Internationalen Gerichtshofs zu einer Zeit im Schwinden begriffen sei, da die Anzahl der Streitfälle vor dem Gerichtshof größer als jemals zuvor ist. Jedoch ist Quantität nicht unbedingt ein unfehlbares Zeichen für tatsächlichen Einfluß, insbesondere nicht in einer Gemeinschaft, die aus unabhängigen souveränen Staaten besteht, deren vorherige Zustimmung für die Zuständigkeit des Gerichtshofes in jedem einzelnen Fall unerläßlich ist und die wahrlich nicht gezögert haben, an ihre formelle Annahme der Jurisdiktion des Gerichtshofs alle möglichen Vorbehalte und Bedingungen zu knüpfen. Gerade die Vereinigten Staaten sind ein gutes Beispiel für die immer stärker werdende Tendenz, sogenannte lebenswichtige Fragen dem Einfluß des Internationalen Gerichtshofs zu entziehen. In der Erklärung, mit der sich die USA im Jahre 1945 der Rechtsprechung des Haager Gerichtshofs unterwarfen, heißt es nämlich nicht mehr und nicht weniger, als daß von dieser Erklärung alle Angelegenheiten ausgenommen sind, „welche nach Ansicht der Vereinigten Staaten in die innerstaatliche Zuständigkeit der Vereinigten Staaten fallen”.

ln diesem Zusammenhang ist es sicherlich auch bemerkenswert, daß von den fast dreißig Streitfällen, mit denen sich der Internationale Gerichtshof seit Aufnahme seiner Arbeiten im Jahre 1947 zu befassen hatte, kein einziger auf die Initiative eines osteuropäischen oder afroasiatischen Staates (mit der Ausnahme Israels) vor den Gerichtshof gelangte.

Aber die Tendenz, den Internationalen Gerichtshof zu vernachlässigen, zeigt sich noch viel klarer, wenn man die Arbeit der Vereinten Nationen selbst betrachtet.

Die Verfassung der Charta der UNO ermächtigt ausdrücklich die Generalversammlung und den Sicherheitsrat, sich an den Internationalen Gerichtshof mit dem Ersuchen zu wenden, über jede Rechtsfrage ein, wenn auch unverbindliches Gutachten zu erstatten. Sicherlich kann dazu nur gesagt werden, daß so manches internationale Problem von einer teilweise juridischen Behandlung nur gewinnen würde. Aber trotz dieser eindeutigen Machtbefugnis haben die Generalversammlung und der Sicherheitsrat stets darauf bestanden, in zwischenstaatlichen Streitfragen ihre eigenen politischen Entscheidungen zu treffen. Die einzige Ausnahme betrifft ein recht unbedeutendes Problem, als nämlich die Generalversammlung im Jahre 1949 den Internationalen Gerichtshof ersuchte, über gewisse Gesichtspunkte der Friedensverträge mit Bulgarien, Ungarn und Rumänien ein Gutachten zu erstatten. In allen anderen Fragen mit politischem und rechtlichem Hintergrund, sei es nun Palästina, Indonesien, Kaschmir, Ungarn oder auch die Verstaatlichung der Suezkanal-Gesellschaft, zogen es diese zwei hochpolitischen Organe der Vereinten Nationen vor, auch juridische Probleme im Lichte politischer Erwägungen zu behandeln und Rechtsfragen politischen Interessen unterzuordnen.

Zugegebenermaßen ist die UNO in erster Linie eine politische Organisation, die zu politischen Zwecken gegründet wurde, nämlich zur Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit in der Welt. Ursprünglich war es nicht einmal vorgesehen, das Wort „Gerechtigkeit” in den Text der Charta der Vereinten Nationen aufzunehmen.

Anderseits kommt die Initiative des Präsidenten der Vereinigten Staaten zu einem Zeitpunkt, ‘ da, nach’ Meinung vieler Beobachter,’ die Vereinten Nationen ihre politischen Möglichkeiten schon beinahe erschöpft haben, ohne daß die Welt heute von einem möglichen Völkerkonflikt weiter entfernt wäre, als es im Jahre 1945 bei der Gründung der UNO der Fall war. Gerade heute ist daher die Notwendigkeit, die Arbeit der Vereinten Nationen in zusätzliche und bisher unerprobte Bahnen zu lenken, dringender denn je. In diesem Zusammenhang ist größere Inanspruchnahme des judiziellen Organs der UNO sicherlich eine der verschiedensten möglichen Richtungen, in denen sich eine solche teilweise Neuorientierung der Weltorganisation vollziehen könnte.

Der Internationale Gerichtshof würde einer Erweiterung seines Wirkungsbereiches nicht unvorbereitet gegenüberstehen. Das allgemein anerkannte Völken-echtsgut ist gerade während der letzten Jahre in ständigem Wachstum begriffen gewesen. Eine nicht unbedeutende Rolle an dieser erfreulichen Entwicklung kommt der aus 21 Juristen bestehenden UN-Völkerrechts- kommission zu, der seit 1957 auch der Wiener Universitätsprofessor Dr. Alfred Verdroß angehört. Diese Kommission wurde im Jahre 1947 von der Generalversammlung mit der Aufgabe ins Leben gerufen, zur Entwicklung und Kodi- fizierung des Völkerrechts beizutragen, und hat sich eingehend mit Fragen, wie Rechte und Pflichten von Staaten, internationales Strafrecht, Vergehen gegen Frieden und’ Sicherheit, Definition der Aggression, Völkermord, Staatenlosigkeit, internationale Schiedsgerichtsbarkeit, diplomatische Immunität usw., befaßt. Infolge der verständlicherweise recht technischen Natur ihrer Arbeit ist die UN-Völkerrechtskommission, die alljährlich in Genf tagt, weiten Kreisen praktisch unbekannt. Sie trat zuletzt im Zusammenhang mit der im Sommer 1958 ebenfalls in Genf abgehaltenen Ersten Seerechtskonferenz hervor, für die sie wertvolle Vorarbeit leistete.

Was dürfen wir uns von einer engeren Verknüpfung der politischen Debatten in der Generalversammlung und im Sicherheitsrat mit dem Wirken des Internationalen Gerichtshofs erwarten?

Vor allem ist es wahrscheinlich, daß eine solche Einschaltung des Internationalen Gerichtshofs in die politischen Diskussionen der Vereinten Nationen in vielen Fällen die internationalen Streitfällen anhaftende politische Spannung mindern und die Debatte über solcheFragen auf das Wesentliche beschränken würde. Allein die Tatsache, daß der Internationale Gerichtshof seinen Sitz im Haag und nicht in New York, dem Brennpunkt vieler politischer Fragen, hat, wird oft als Garantie für eine sachlichere und erfolgreichere Behandlung internationaler Probleme angeführt.

In gewissen Fällen würden Gutachten des Internationalen Gerichtshofs dazu beitragen, daß die oft verheerende Notwendigkeit einer sofortigen politischen Entscheidung nicht mehr als so dringend empfunden wird, was wiederum der Generalversammlung und dem Sicherheitsrat die Möglichkeit geben würde, endlich politische Lösungen auf längere Sicht zu planen. Natürlich ist es in diesem Zusammenhang unerläßlich, daß der Internationale Gerichtshof um sein Gutachten ersucht wird, noch bevor die Streitfrage von politischen Gesichtspunkten entschieden ist, und möglicherweise auch noch, bevor die Diskussion über die betreffende Frage bereits hoffnungslos festgefahren ist.

Gutachten des Internationalen Gerichtshofes würden den Streitparteien Gelegenheit geben, sich ohne sonst kaum vermeidbarem Prestigeverlust auf eine allgemein annehmbare Lösung zu einigen.

Schließlich würden die Entscheidungen des Sicherheitsrates und die Empfehlungen der Generalversammlung ein weit größeres Gewicht und Ansehen besitzen, falls sie sich auch auf eine Mehrheit im Internationalen Gerichtshof berufen könnten, ganz abgesehen von der Wahrung des Grundsatzes, daß Rechtsfragen nicht von politischen Organen beantwortet werden sollten.

Selbstverständlich kann sich solch ein Gesinnungswandel der Vereinten Nationen nicht über Nacht vollziehen; er kann nur das Endergebnis einer langsamen und mühevollen Entwicklung sein. Aber die Voraussetzungen für diese Entwicklung sind vorhanden. Es ist nur zu hoffen, daß die Initiative des amerikanischen Präsidenten erfolgreich sein wird.

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