Kontrapunkt der Moderne

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Die Diskussion um die Menschenrechte bewegt sich immer im Spannungsfeld von Universalität und kultureller Partikularität.

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Die Diskussion um die Menschenrechte bewegt sich immer im Spannungsfeld von Universalität und kultureller Partikularität.

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Menschenrechte besitzen heute herausragende Bedeutung als rechtliche Instrumente für den Schutz des Individuums gegenüber den unterschiedlichsten Formen der Bedrohung durch obrigkeitliche Willkür und als Prinzipien, welche die Forderung nach Garantie grundlegender humaner Lebensbedingungen für jeden Menschen zum Inhalt haben. Da sie begrifflich jedem Menschen als Menschen - also unabhängig von Religion, Rasse, Geschlecht, kulturellem beziehungsweise zivilisatorischem Entwicklungsstadium - zukommen, haben sie notwendig universalen Charakter. Dieser universale Charakter der Menschenrechte wird in den internationalen Dokumenten des Menschenrechtsschutzes eindringlich zum Ausdruck gebracht, so zum Beispiel schon in der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" der Vereinten Nationen von 1948 und, vor kurzem, in der "Wiener Erklärung" der UNO-Menschenrechtskonferenz 1993.

Eine radikale Infragestellung dieses universalistischen Konzepts enthält der Vorwurf, die Menschenrechte seien in Wahrheit nicht universal, sondern Erscheinungsformen des "Euro-" beziehungsweise "Ethnozentrismus". In den diversen Richtungen des sogenannten "kulturellen Relativismus" begegnet man dem mehr oder weniger radikal formulierten Einwand, auf Grund der unhintergehbaren kulturellen Kontextualität normativer Orientierungen sei es nicht beziehungsweise nicht in ausreichendem Maße möglich, universal verbindliche Freiheitsrechte zu formulieren. Prätendierte Universalität, wie sie gerade in den Menschenrechten zum Ausdruck kommt, sei in Wahrheit nur das Resultat unhinterfragter und daher nicht begriffener kultureller Partikularität, nämlich jener des Westens. Der die Idee der Freiheitsrechte tragende Liberalismus sei selbst bloß eine Spiegelung einer bestimmten Kultur und damit ein von inneren Widersprüchen geprägter "Partikularismus unter der Maske des Universalismus" (Taylor).

Partikular seien die Menschenrechte trotz prätendierter Universalität insbesondere deshalb, weil sie, wie immer wieder betont wird, ein individualistisch-atomistisches Menschenbild und ein daran orientiertes Gesellschaftskonzept zur Grundlage hätten, für welches das egoistische, unsolidarische, allein auf sich selbst bezogene Individuum westlicher Gesellschaften paradigmatisch sei. Solcherart geprägte Menschenrechte wirkten destruktiv, weil durch sie im Zuge der globalen Implementierung des Menschenrechtsgedankens gewachsene, auf Gruppensolidaritäten beruhende und durch traditionale kulturelle Konformität charakterisierte Sozialstrukturen in ihrer Existenz bedroht würden. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem speziell von islamischer Seite geäußerten Vorwurf zu, unter dem Prätext des Menschenrechts auf Religionsfreiheit und der daran orientierten religiösen Neutralität des Staates werde in den religiösen Bezügen der Weg zum Agnostizismus beziehungsweise zum Atheismus forciert und damit auf säkularistische Weise die gesellschaftlich-kulturelle Präsenz der religiösen Wahrheitsfrage zurückgedrängt.

Im Zuge von rechtlichen Internationalisierungs- und Globalisierungsprozessen auf Regionen mit differenten kulturellen Rahmenbedingungen ausgedehnt, provozierten die Freiheitsrechte daher kulturimperialistische Effekte, seien "Kolonialismus im Gewande des Humanismus" (Bielefeldt) und stellten solcherart eine hegemoniale Bedrohung der gesellschaftlich-politisch-religiösen Identität der betroffenen Gesellschaften dar.

Diese Einwände bedürfen einer differenzierten Beurteilung, wobei zweierlei vermieden werden sollte: einerseits, in eine bloße Apologetik europäischer Kulturmissionen zu verfallen; und andererseits einem Kulturrelativismus das Wort zu reden, der angesichts massiver Bedrohungen von Humanität in Zynismus umschlägt.

Dem kulturrelativistisch inspirierten Eurozentrismus-Vorwurf kann zunächst einmal entgegengehalten werden, daß er ein allzu harmonistisches Bild von der Unversehrtheit kultureller Traditionswelten zeichnet und damit deren Vermögen überschätzt, Konflikte zu bewältigen, ohne dabei um des Individuums willen auf menschenrechtliche Garantien, insbesondere auf individuelle Freiheitsrechte, zu rekurrieren, die die Integrität der Person gerade auch im Rahmen von Gruppensolidaritäten wahren sollen. Dieser Rekurs auf die Freiheitsrechte auch in diesen Gesellschaften erscheint angesichts der infolge der Begegnung mit der modernen technischen Weltzivilisation zweifellos bereits vorhandenen und durch die modernen Kommunikationsmedien verstärkten Fragmentierung kultureller Lebensformen unabdingbar, sollen totalitäre Konsequenzen vermieden werden.

Dazu kommt, daß der moderne Nationalstaat zu einem kulturübergreifenden globalen Phänomen geworden ist, damit aber massive Bedrohungspotentiale (Polizei, Militär, Bürokratie, moderne Kommunikationssysteme) bereithält, sodaß es völlig inkonsequent, ja zynisch wäre, diese politischen Faktoren weltweiter Modernität (also quasi die "halbierte Moderne") zu rezipieren, dabei aber gleichzeitig die Menschenrechte, die als Antwort auf das wachsende Gewaltpotential dieses nunmehr global gewordenen modernen Staates entstanden sind, und liberale Rechtsstaatlichkeit als kulturimperialistisch zurückzuweisen. Die Globalisierung des modernen Staates hat ohne Zweifel zu einer Bedrohung überkommener kultureller Identitäten geführt, die zu Recht beklagt wird. Es wäre aber verfehlt, dafür gerade die Menschenrechte verantwortlich zu machen. Denn es kann keineswegs das Ziel universal verstandener Menschenrechte sein, bestehende Kulturen zu verdrängen oder zu zerstören. Ihre Aufgabe sollte gerade im Gegenteil auch darin gesehen und ihr Potential genützt werden, kulturelle Vielfalt anzuerkennen, in ihrem Bestand zu sichern und solcherart institutionelle Bedingungen für eine friedliche Koexistenz beziehungsweise Kooperation unterschiedlicher Kulturen zu schaffen.

Andererseits wäre es eurozentristischer Hochmut - der durchaus verbreitet ist -, die Menschenrechte anderen Völkern und Kulturen im Zeichen einer überheblichen "modernistischen Zivilisationsmission" (Bielefeld) aufzudrängen. Für solche Überheblichkeit besteht kein Anlaß, wie ein Blick in unsere eigene Menschenrechtsgeschichte zeigt. Denn die Menschenrechte sind zwar ein Produkt der europäischen Moderne, dürfen aber keineswegs mit dieser identifiziert und als bestimmender Faktor einer linearen Fortschritts- und Emanzipationsgeschichte von Recht und Staat verstanden werden. Sie bilden vielmehr einen "Kontrapunkt der Moderne" (Höffe), weil sie eine Reaktion auf die massiven Unrechtserfahrungen darstellen, die im Zuge der europäischen Religionskriege, der dadurch bewirkten Orientierungs- und Legitimationskrisen und des massiv gesteigerten Gewalt- und Bedrohungspotentials des neuzeitlichen Staates auftraten. Als Reaktion auf exemplarische Unrechtserfahrungen besitzen die Menschenrechte somit Antwortcharakter, indem sie angesichts schwerwiegender Bedrohung von Humanität gegenüber den politischen Mächten die Anerkennung und Beachtung grundlegender und unverfügbarer Rechte des Menschen einfordern.

Diese Rechte sind zwar in einem partikularen geschichtlichen Kontext entstanden, besitzen aber als universale Rechte rechtfertigungstheoretisch einen über die entstehungsgeschichtliche Konstellation hinausweisenden und solcherart überschießenden Gehalt. Dieser kann allerdings nicht in einen überzeitlichen Katalog absoluter Rechte gegossen werden, sondern muß geschichtlich offen bleiben. Damit bieten diese Rechte aber die Möglichkeit, als normativer Bezugspunkt für die Artikulation analoger Unrechtserfahrungen in differenten kulturellen Milieus zu figurieren, und auch in diesen dem Schutz des Menschen und seiner Würde zu dienen, ohne diesen Kulturen damit zugleich die "westliche" Zivilisation und Lebensform zu oktroyieren.

Als universelle Sinnangebote, an die Unrechtserfahrungen auch unter differenten kulturellen Bedingungen anzuknüpfen vermögen, beinhalten die Menschenrechte jedenfalls die klassischen Freiheitsrechte. Deren Bedeutung sollte auch im interkulturellen Kontext keineswegs in Frage gestellt werden. Sie weisen aber über diesen Schutzbereich hinaus und fordern, gerade im menschenrechtlich-institutionellen Kontext kulturelle Vielfalt anzuerkennen, in ihrem Bestand zu sichern und solcherart Bedingungen für ein kooperatives Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen zu schaffen.

Ein solcher menschenrechtlicher Umgang mit kultureller Identität und Diversität bietet die Chance, dem Vorwurf des menschenrechtlichen Hegemonismus zu begegnen und in der Partikularität kultureller Traditionen gemeinsam um die Wahrung der Rechte des Menschen in ihrer Universalität besorgt zu sein.

Der Autor ist Professor für Rechtsphilosophie an der juridischen Fakultät der Universität Wien.

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