Versuch einer Differenzierung gegen die Herrschaft der Schlagworte.
Aufklärung", ein durchaus umstrittener Begriff der Geistesgeschichte, ist zu einem populistischen Schlagwort geworden, das die Welt in Licht und Finsternis aufteilt. Diejenigen, die es verwenden, meinen auf jeden Fall, im Licht zu stehen, und glauben sich berechtigt, andere als Finsterlinge abzustempeln, insbesondere dem Islam Nachholbedarf in Sachen Aufklärung vorzuhalten. Wenn freilich die Frage gestellt wird, was denn Aufklärung sei, verschwimmen Licht und Finsternis zu einer nebeligen Grauzone. Und das gilt schon für das "Zeitalter der Aufklärung" selbst, in dem viele unterschiedliche Geisteskräfte miteinander im Streit lagen. In der Regel wird der Anbruch dieses Zeitalters im 18. Jahrhundert angesetzt und eine Epoche genannt. Epocheneinteilungen sind freilich das Ergebnis eines Rückblicks, der in diesem Fall mehr als hundert Jahre später erfolgte. Solche abstrakten Normierungen fassen die Vielfalt der Strömungen nicht, auch nicht des Mittelalters, das aus dieser Perspektive als Gegenschlagwort für abergläubisch und "finster" steht. Das Mittelalter war keineswegs nur finster und die Aufklärung keineswegs nur licht.
Vernunft über alles
Was ist Aufklärung? Die Antwort darauf wird häufig mit der Vernunft assoziiert, die nun endlich gebraucht werden solle, denn sie sei das entscheidende Mittel, mit dem der Mensch die reale und die geistige Welt durchdringt und gestaltet. Dem ist nichts entgegenzusetzen, aber damit wurde nicht erst vor 200 Jahren begonnen und auch nicht nur in Europa. Etwas anderes wäre auch verwunderlich, geht man davon aus, dass Reflexion und Selbstreflexion schon länger zur menschlichen Gattung gehören. Die Epocheneinteilung macht vergessen, dass der Vernunftgebrauch auch das gesamte Mittelalter in dem Bemühen bestimmte, in höchst differenzierter Weise die Theologie anzueignen und durchaus kritisch zu diskutieren.
Auch die Mystiker haben nicht anti-rational aus dem Bauch heraus agiert; so entwickelte etwa Meister Eckart auf der Basis von Aristoteles und Averroës, dem spanisch-islamischen Rechtsgelehrten und Philosophen, eine eigene Religionsphilosophie. Schon Boethius (6. Jh.), aus politischen Gründen in Gefangenschaft, hatte Trost nicht in erster Linie aus dem Glauben bezogen, sondern aus vernünftiger Überlegung, und auf die Freiheit des Gewissens gepocht. Das Mittelalter war die Zeit der Universitätsgründungen, der internationalen Vernetzungen der Wissenschaften auch mit der islamischen Welt, der Entdeckung griechisch-arabischer Textkonvolute, der Expansion der Städte mit einer zunehmend gebildeten Bürgerschaft. Dass heute alles, was mit Theologie zu tun hat, in die Rubrik "vernunftlos" eingeordnet wird, geht auf das schablonenhafte Verständnis von Aufklärung als Epoche zurück.
Diskurse der Gewalt
Der Begriff Aufklärung kann auch anders gefasst werden, nämlich als Emanzipation von überlieferter Autorität, die sich mit autoritativer Gewalt verbindet. Schon im Mittelalter gab es genug gebildete Menschen, die sich ihre eigenen Gedanken machten. Hinzu kamen Bewegungen, die sich theoretisch und praktisch, offen oder subversiv kritisch gegen die Machtentfaltung der Kirche und die enge Verbindung von Thron und Altar richteten. Dazu gehörten die Waldenser mit ihrem Predigerinnen oder die Franziskaner; die Vilemiten im 13. Jahrhundert hatten das Frauenpriestertum. Aber sie alle wurden mit der autoritativen Gewalt der Kirche konfrontiert, teils bis zur Vernichtung durch den Staat als deren langer Arm. Solche Konstellation konnte auch für jeden nichtreligiösen politischen Zweck benutzt werden.
Gegenüber dieser tatsächlich finsteren Seite des Mittelalters bedeutet Aufklärung Befreiung von geistiger Bevormundung, Meinungsfreiheit, Aufhebung von Zensur, Abschaffung von Folter und Todesstrafe, die Übergabe von Gewaltmonopol und Gerichtsbarkeit an den demokratischen Staat, Geschlechtergerechtigkeit - und Religionsfreiheit. Es war ein langer, von geistigen und realen Kämpfen begleiteter Prozess, der schon im Mittelalter begonnen hatte und sich auch heute - etwa bei der Todesstrafe in den USA - keineswegs überall durchgesetzt hat. Vergleichbares trifft auch für den islamischen Raum zu. Averroës, der die Verpflichtung zur Vernunfttätigkeit aus dem Koran selbst bezog und diesen im Falle von Widersprüchen interpretierte, wurde von den Traditionalisten bekämpft und verbannt; auch hier spielten politische Zwecke eine Rolle. Autoritative Gewalt verbindet sich in islamischen Rechtsschulen u. a. mit einem Verständnis von Religionsfreiheit, das Freiheit muslimischer Glaubenspraxis meint, aber keine freie Wahl in Bezug auf andere Religionen. Nicht anders dachte das Lehramt der römischen Kirche, ehe sich erst das 2. Vatikanum zur Religionsfreiheit bekannte.
Ambivalenz der Aufklärung
Aufklärung - das kann auch heißen, dass der Mensch sich zum Maßstab aller Dinge macht und nichts gelten lassen will, was außerhalb seines bescheidenen innerweltlichen Rahmens liegt. Nun besteht zwar eine, auch religiös begründete Notwendigkeit (Gen 1), dass der Mensch sein Leben in die Hand nimmt, um sich gegenüber der Natur durch Kulturbildung und zivilisatorische Mittel zu behaupten. Aber eine vernünftige Weltbewältigung kann in rücksichtslose Verfügungsgewalt kippen; diese aufklärungsimmanente Kritik wurde von den Philosophen Horkheimer und Adorno bereits in den 1940er Jahren vorgebracht. Dass sich die aufgeklärten Geister Europas geistig und politisch die Vormundschaft anmaßten gegenüber allen anderen Völkern, dass der emanzipatorische Elan in Despotie umschlagen kann, gehört zur finsteren Seite der Aufklärung mit Folgen: Rhetorik vom "Untermenschen", Kolonialismus, Eurozentrismus, rücksichtslose Ausbeutung, Identifikation von Religion mit vernunftlosem Aberglauben; die Diktaturen des 20. Jahrhunderts sind kein Zufall.
Gleichzeitig ungleichzeitig
Der Soziologe Karl Mannheim hatte bereits in den 1920er Jahren das inzwischen viel beschriebene Phänomen der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" diagnostiziert. Das trifft auch für den Islam zu. So stehen etwa den Rechtsschulen, die für den Wechsel zu einer anderen Religion die Todesstrafe fordern, Rechtsgelehrte gegenüber, die das strikt ablehnen, indem sie zwischen der Situation zur Zeit Muhammads und heutigen Umständen unterscheiden und anhand des Korans argumentieren, dass es nur Gott zukommt, über die Menschen zu richten. Mit ihrer bedenklichen Tendenz zur Simplifizierung verdecken die Medien die handfesten politischen Hintergründe von Gewalt, die mit den Diktaturen in vielen islamisch geprägten Ländern zusammenhängt, und übernehmen ungeprüft die Verknüpfung mit der religiösen Rhetorik von Extremisten. Dadurch werden hierzulande Vielfalt und Ungleichzeitigkeit auch im Islam nicht wahrgenommen, wie etwa Demokratie- und Frauenbewegungen, die im Koran Mitbestimmung und Geschlechtergerechtigkeit entdecken.
Migration, Globalisierung und Medien verschärfen das Problem: Kulturen und Religionen aus aller Welt, Traditionen und Denkweisen aus allen Jahrhunderten sind zugleich präsent. Dies fordert auch die Muslime heraus, sich gegen eine "aufgeklärte" Bevormundung zu wehren, die ihnen Maßstäbe vorsetzen will, die aus einem zweifelhaften Epochebegriff stammen, was fundamentalistische Verhärtungen geradezu provoziert. Hingegen steht die Vernunftfähigkeit des Menschen immer in Relation zu vielschichtigen geschichtlichen Prozessen; das noch stärker wahrzunehmen, würde ich mir von muslimischer Seite wünschen. Damit muss kein Relativismus verbunden sein. Mit Martin Buber gesprochen: Zwang und Unterwerfung widersprechen der menschlichen Würde, Freiheit ist ein Steg, aber kein Wohnraum. Erst der Abschied vom Epochendenken kann einen gemeinsamen Wohnraum schaffen, der ohne autoritative Gewalt auskommt.
Die Autorin ist Professorin für Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien.
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